Literatur und Krieg

Ilya Kaminsky: „Ich hoffe, dass die Ukraine eine tolerante Gesellschaft bleibt“

Der in den USA lebende Dichter wuchs in Odessa auf, ohne hören zu können. Er sagt: „Die Stille ist eine Erfindung der Hörenden.“

Ilya Kaminsky am Haus der Berliner Festspiele
Ilya Kaminsky am Haus der Berliner FestspieleSabine Gudath

Gerade noch hat er Verwandte in Odessa besucht, dann war Ilya Kaminsky auch in Berlin, als Gast beim Internationalen Literaturfestival. Er ist einer der derzeit international meist besprochenen Dichter, und seine Bücher wie „Republik der Taubheit“ und „Tanzen in Odessa“ weisen geradezu prophetisch auf den Krieg in der Ukraine. Wir sprachen mit ihm über Poesie und Gewalt, über Gebärden und Worte, über Humor als Überlebensmittel.

Herr Kaminsky, Sie schreiben auf Englisch, lehren Poesie auf Englisch, leben in den USA. Hat der Krieg Sie jetzt näher an die Ukraine gebunden? Was sagen Sie, wenn man fragt, woher Sie kommen?

Ich antworte das, was ich immer gesagt habe: Ich bin Jude, aufgewachsen in der Sowjetunion. Das machte mich zum Außenseiter. Das sowjetische Imperium zerfiel, als meine Familie die Ukraine verließ. Ich fahre oft nach Odessa, zuletzt war ich vor einem Monat dort. Die Stadt war schon in der Sowjetunion besonders, das ist sie heute noch. In den USA lebte ich erst in Kalifornien, jetzt in Georgia – also in zwei sehr verschiedenen Bundesstaaten. Wenn man Flüchtling ist, behält man den einen Fuß am alten Ort, wenn man mit dem anderen schon im neuen Land steht. Dichter werden nicht in einem Land geboren, sie werden in der Kindheit geboren.

Wissen Sie, dass das Sekretariat des Schriftstellerverbands der Ukraine das Museum für Michail Bulgakow in Kiew schließen möchte? Was halten Sie davon?

Das ist keine Frage, die mit meiner Dichtung etwas zu tun hat, dazu möchte ich mich nicht gern äußern. Bulgakow ist ein großer Schriftsteller, ich schätze ihn sehr. Er war ein Monarchist, er wünschte sich ein Russland mit einem Zar. Finde ich das gut? Nein. Aber ich muss nicht mit allem übereinstimmen, was ein Schriftsteller sagt oder denkt, ich lese ihn wegen seiner Werke. Und ich muss auch nicht mit allem übereinstimmen, was ukrainische Autoren-Organisationen jetzt sagen. Es ist ihre Sache. Doch ich halte es für wichtig, dass wir solche Situationen im Lichte dessen betrachten, was mit dem Land geschieht: Russland hat damit begonnen, die Ukraine anzugreifen unter dem Vorwand, die russische Sprache zu schützen. Soldaten bombardieren wortwörtlich russischsprachige Menschen in der Ukraine und behaupten, sie würden die Sprache schützen. Dies ist eine Art schreckliche imperialistische Propaganda, bei der die Sprache als Waffe eingesetzt wird. Abgesehen davon hoffe ich, dass die Ukraine trotz der Herausforderungen, denen sie gegenübersteht, eine tolerante, demokratische und multikulturelle Gesellschaft bleibt.

Sie konnten lange wegen einer Erkrankung nicht hören, erst in den USA bekamen Sie ein Hörgerät. Stimmt es, dass Sie dies herausnehmen, wenn Sie in die Ukraine reisen?

Das mache ich, wenn ich mich erinnern möchte. Ohne das Hörgerät empfange ich andere Eindrücke, die sind zum Teil nahe an denen meiner Kindheit. Die Sprache, die ich dann erlebe, ist wortlos, sie zeigt sich in der Interaktion der Menschen. Es sind Bilder, an die ich mich erinnere, und auch neue. Die Poesie nutzt Bilder, eine internationale Sprache, um auf einer Buchseite eine lebendige Welt zu erschaffen, die den Leser in ihren Bann ziehen kann, sodass der Leser diese Welt des Gedichts überallhin mitnehmen kann.

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Sabine Gudath
Zur Person
Ilya Kaminsky, geboren 1977 in der ehemaligen Sowjetunion, wanderte mit seiner Familie 1993 in die USA aus. Er war Rechtsreferendar für San Francisco Legal Aid und das National Immigration Law Center. 2002 veröffentlichte er seinen ersten Lyrikband. Er lebt als Dichter, Kritiker, Übersetzer und Lyrik-Professor in Atlanta. Auf Deutsch erschienen „Tanzen in Odessa“ (Klak Verlag, Deutsch von Alexander Sitzmann) und „Republik der Taubheit“ (Hanser, Deutsch von Anja Kampmann). Sein vielfach ausgezeichnetes Werk wurde in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Sehen Sie die Gebärdensprache als eigene Sprache an?

Die Gebärdensprache ist eine sehr reiche und verschiedenartige Kultur. Ich kann der amerikanischen Gebärdensprache folgen, aber ich verstehe nicht alles. Die russische Gebärdensprache ist übrigens ganz anders, aber sogar das britische Zeichensystem ist sehr verschieden vom amerikanischen. Die Gebärdensprache lehrt uns die Grenzen der gesprochenen Sprache. Wenn man zwei Hörende, die nicht der Sprache des anderen mächtig sind, für 24 Stunden in einen Raum steckt und dann zurückkommt, werden sie wahrscheinlich in verschiedenen Ecken sitzen und sich misstrauisch anschauen. Aber was passiert, wenn man zwei Gehörlose, die unterschiedliche Gebärdensprachen sprechen, für 24 Stunden allein lässt? Sie werden wahrscheinlich versuchen, gemeinsam eine neue Gebärdensprache zu entwickeln, sich gegenseitig zu verstehen, sie können Körper als eine eigene Sprache lesen. Was zeigt uns das? Wir sehen daran die Grenzen der hörenden Welt. Gehörlose glauben nicht an die Stille. Die Stille ist eine Erfindung der Hörenden.

Wie ist das mit den gezeichneten Gebärden in Ihrem Buch „Republik der Taubheit“ – können Gehörlose in den USA oder in der Ukraine sie deuten?

Einige sind allgemeinverständlich, andere entsprechen der amerikanischen oder der ukrainischen Sprache. Und dann gibt es auch Zeichen, die für das Buch erfunden worden sind. Vergessen Sie nicht, dass dies keine Dokumentation ist, es ist Dichtung. Poesie ist keine Verkündigung. Sie ist eine Warnung, ein Zauberspruch.

Wie entstehen Ihre Gedichte

Das hängt immer vom Gedicht ab. Aber es ist eine faszinierende Frage. Ich stelle sie selbst oft anderen Dichtern, die ich bewundere: Wie machst du das? Viele antworten mit Schwesterkünsten. Einige sehen sich Marc Chagall verwandt, für den zuerst die Farbe da war, die Stimmung, und der dann die Personen und anderen Elemente dazukomponierte. Andere arbeiten wie ein Bildhauer, wie Michelangelo etwa, der von einem großen Block Stückchen für Stückchen herausmeißelte. Sie schreiben fünfzig Seiten und reduzieren den Text auf drei.

Viele der Gedichte in „Republik der Taubheit“ haben Sie jemandem gewidmet, eines zum Beispiel Serhij Zhadan. Denken Sie beim Schreiben an die Person oder kommt die Widmung später hinzu?

Auch das hängt vom Gedicht ab. Bei Serhij war es so, dass wir zusammengearbeitet haben, er hat eines meiner Gedichte übersetzt. Wenn Dichter sich gegenseitig übersetzen, das ist wie ein Handschlag. Ich bin sehr bewegt davon, was er jetzt während des Krieges tut, er organisiert Unterstützung für viele Menschen in Charkiw. Ein anderes Gedicht habe ich Boris und Ludmila Khersonsky gewidmet, einem Paar aus Odessa. Er ist Psychologieprofessor. Als Russland die Krim annektierte, entschied er, auf Ukrainisch zu unterrichten. Das ist heute nichts Besonderes mehr, aber damals, 2014, war es eine symbolische Entscheidung. Manchmal veranlassen mich Ereignisse zu einer Widmung, die haben nicht alle mit der Ukraine zu tun.

Sondern?

Denken Sie an das letzte Gedicht in dem Buch: „In einer Zeit des Friedens“. Das schrieb ich, als in den USA mehrere Fälle hintereinander bekannt wurden, da Polizisten schwarze Menschen erschossen. Ich habe es Patricia Smith gewidmet, einer schwarzen Dichterin. Sie erzählte, ihre beiden erwachsenen Kinder hätten Angst, das Auto zu verlassen, wenn sie über die Grenze zu bestimmten Staaten in den USA fahren. Was sind das für Verhältnisse, wenn man sich nicht nur in gewissen Straßen, in einer Stadt, sondern in einem ganzen Bundesstaat fürchten muss? Diese Widmung ist ein Gruß an meine Kollegin.

Beim Gespräch auf dem Podium des Literaturfestivals hatten Sie Spaß, das Publikum mit witzigen Bemerkungen zu unterhalten, in einigen Ihrer Gedichte gibt es Humor. Ist das ein Weg, dem Düsteren und der Trauer zu entfliehen?

So wichtig ich Humor finde, so gerne ich auch lache, möchte ich doch sagen, dass man vor Trauer nicht fliehen sollte. Sie hat ihren Grund, man sollte sie nicht verdrängen. Trauer kann einem auch zeigen, wie man jemandem, den man verloren hat, seine Ehre erweist. Humor ist auf der anderen Seite wichtig, um wach zu bleiben, offen für das Unerwartete. Und das Lachen bringt Menschen zusammen. Wie gesagt, ich war erst vor einem Monat in der Ukraine, zu einem Besuch mitten im Krieg. Und mein Onkel konnte nicht aufhören, Witze zu erzählen. Es gab Hochzeiten auf der Straße. Wir lachen, damit wir nicht fallen.