Am schicken Ende des Stuttgarter Platzes herrscht an diesem hochsommerlichen Donnerstag um kurz vor 17 Uhr längst Feierabendstimmung. Man erkennt es daran, dass vor den Restaurants die ersten Flaschen in der Eisschmelze des Weinkühlers baden. Die Deutschen trinken bekanntlich mittags nicht, dafür adaptieren sie gerade den schönen südeuropäischen Brauch, mit sinkender Sonne zielsicher ans Glas zu streben. Das haben sie zwar schon immer gemacht, aber damals hieß das noch Feierabendbier und hatte eine ganz andere Bedeutung als das, was man heute am Stuttgarter Platz wohl „Aperitivo“ nennen würde.
Der Autor und Übersetzer Vincenzo Latronico ist amüsiert, dass man trotz dieser gelebten Charlottenburger Italianità nicht vermutet hätte, ihn ausgerechnet hier anzutreffen. Wenige Minuten vom Stuttgarter Platz entfernt bietet er dem Gast vor der üppigen Bücherwand seines schattigen Erdgeschossbüros Wasser und Kaffee an, ganz in der Nähe wohnt er auch.
Dass man bei ihm eher mit einer Einladung nach Neukölln oder Kreuzberg gerechnet hätte, begründet sich allerdings rein literarisch. Denn Latronico hat einen viel gelobten Berlin-Roman geschrieben, der „Die Perfektionen“ heißt und im Frühjahr in deutscher Übersetzung erschienen ist. Kühl weht einem die Stadt daraus entgegen, bespielt von Expats wie dem Digitalnomaden-Paar Anna und Tom. Die innere Leere tapezieren sie mit dem, was die Vertreter des eigenen Milieus auf Instagram vorgestanzt haben: In die Altbauwohnung gehören großblättrige Monstera-Pflanzen und Vintage-Möbel, die Nächte verbringt man in der Panoramabar, die Arbeit muss flexibel, der Sex außergewöhnlich sein.
Anna und Tom performen in einem Leben, das andere für sie entworfen haben. „Die Perfektionen“ versammelt Berliner Hipster-Klischees, wirkt aber, als wisse niemand mehr, warum diese eigentlich mal geprägt wurden. Als sei die Luft raus aus der großen Stadt, und im Vakuum zurückgeblieben sind nur die geschrumpften Artefakte einstiger Verheißungen. Es ist ein trauriges Buch.
Man könnte von der Geschichte einer Entfremdung sprechen, aber Latronico scheut die große These genauso wie die Psychologie. Sein eleganter Oberflächenstil nimmt stattdessen leise Anteil an der Unerfülltheit der Protagonisten, verurteilt sie nicht, stellt sie nicht bloß. Wie auch, schließlich habe das alles mit ihm und seinem Umfeld zu tun, sagt er und zeigt auf die imposante Grünpflanze und den Mid-Century-Rollladenschrank in seinem Büro.
Charlottenburg war auch für ihn nicht die erste Station. Nach den „üblichen Stadtteilen“ ist der 2009 aus Mailand nach Berlin Gekommene nun aber bewusst hier angelangt. Mit demnächst 40 Jahren fühle er sich in der gesetzten Bürgerlichkeit dieses Kiezes wohl, sagt er nur halbironisch. Überhaupt scheinen ihn die urbanen Fluktuationen und Szenemigrationen zu beschäftigen. Auf seinem Macbook zeigt er eine ältere Grafik, die das wandernde Zentrum der Berliner Expat-Community darstellt. Ein Pfeil dreht sich im Uhrzeigersinn und beschreibt einen Halbkreis von Mitte über Prenzlauer Berg und Friedrichshain, bis er im nördlichen Neukölln endet. „Mittlerweile ist das längst hier angekommen“, sagt Vincenzo Latronico und deutet auf die Gegend westlich der Leibnizstraße.

Es ist kein Zufall, dass „Die Perfektionen“ nicht in der Gegenwart, sondern in der jüngeren Berliner Vergangenheit der späten Nullerjahre spielt. Die im Roman beschriebene Freiberuflerblase internationaler Designer, Musikmenschen und Partykünstler, die in Berliner Wohnküchen Naturwein trinken und überall Englisch sprechen, gäbe es so gar nicht mehr, sagt Latronico – es sei schlicht zu teuer geworden, und wie Anna und Tom im Roman sei auch die Szene weitergewandert.
Am Ende seines Buchs gibt es Hinweise darauf, dass dieses Weiterziehen mit mehr als nur den gestiegenen Mieten zu tun haben könnte. Gut möglich, dass diese Menschen die Idee eines permanenten Zuhauses sowieso aufgegeben haben. Früher hätte man das vielleicht als spirituelle Krise bezeichnet. In Frankreich ist der Roman von der rechten Wochenzeitschrift „Valeurs Actuelles“ deshalb schon als modernekritische Reflexion über den Niedergang des Westens gefeiert worden.
Dies sei „die positivste Kritik, die ich überhaupt bekommen habe“, sagt Latronico und verdreht die Augen. Glücklich ist der zugewandte, ausgesucht freundliche Autor nicht über dieses Lob: „Mein Buch ist keine Diagnose, es ist nur eine Beschreibung der Symptome.“ Um zwei Vergleichsgrößen zu bemühen: Die soziologische Beobachtungsgenauigkeit des von ihm verehrten Georges Perec steht Latronico viel näher als das kulturpessimistische Verfallsgenörgel eines Michel Houellebecq. „Ein Optimist bin ich aber auch nicht“, gibt er zu. Ein Hauch wohlreflektierte Melancholie ist im Gespräch mit ihm immer dabei.
Die Schatten werden länger, auch Latronico möchte jetzt raus aus dem Büro. Zum Feierabendbier, nicht zum Aperitivo. Im Biergarten am Lietzensee tanzen Mückenschwärme zwischen den Rentnerpaaren in der Gegensonne. Bei seinem ersten Besuch hier, erinnert er sich, habe ein Freund zu ihm gesagt: „Das ist nicht Berlin, das ist Deutschland.“




