Berlin-Roman

Peter Schneider: „Machen wir uns nichts vor: Die Wiedervereinigung ist schiefgegangen“

Der Roman „Die Frau an der Bushaltestelle“ führt nach Berlin Anfang der 60er-Jahre. Der Schriftsteller Peter Schneider ist ein Kenner der Stadt. Ein Gespräch über Veränderungen.

Peter Schneider beim Gespräch in seiner Wohnung in Berlin.
Peter Schneider beim Gespräch in seiner Wohnung in Berlin.Emmanuele Contini/Berliner Zeitung

Nicht weit vom Kurfürstendamm und der Schaubühne wohnt der Schriftsteller Peter Schneider in einer Erdgeschosswohnung. Von seinem Schreibtisch blickt er in den Garten. Das Unruhige und Dreckige von Berlin kann man hier vergessen. Doch Schneider kennt die Stadt sehr gut. Er gehörte zu den Wortführern der Studentenbewegung in der Zeit um 1968 in West-Berlin. Später, nach einer ganzen Reihe politischer Texte, ließ er auch mehrere Romane und Erzählungen hier spielen – „Der Mauerspringer“, „Paarungen“, „Eduards Heimkehr“ zum Beispiel. „Die Frau an der Bushaltestelle“, sein jüngstes Buch, ist wieder ein Berlin-Roman.

Herr Schneider, Ihr berühmtestes Buch ist „Der Mauerspringer“. In der essayistischen Erzählung über die geteilte Stadt schreiben Sie: „Die Mauer im Kopf einzureißen wird länger dauern, als irgendein Abrissunternehmen für die sichtbare braucht.“ Kamen Sie sich dann später wie ein Prophet vor?

Ich habe das 1981 geschrieben und 1982 veröffentlicht, also lange vor dem Fall der Mauer. Damals war ein solcher Satz sehr ungewöhnlich, weil die meisten im Westen die Mauer inzwischen hinnahmen und den Osten ausblendeten. Als Linker schrieb man ohnehin nicht über die Mauer, denn damit begab man sich auf das Lieblingsfeld der Springer-Presse – damit war man irgendwie schon rechts.

Wie war es jetzt, für das neue Buch nochmal so weit zurückzugehen, also sogar in die Zeit kurz nach dem Mauerbau?

Es spielt genau in dem Jahr, bevor die Studentenbewegung losgeht. Für meine Generation, zumindest die Aktivisten unter uns, war es eine Niemandszeit. Wir waren gerade aus unseren Elternhäusern rausgekommen und wussten noch nicht so genau, wo es hingeht. Es ist eine Zeit, die in der Literatur kaum beschrieben wird. Über 1968, über die Helden und nicht so großen Helden dieser Zeit, gibt es dann einiges, über die Jahre davor fast nichts. Ja, es ist mir schon schwergefallen, nochmal zurückzugehen. Ich dachte, das wird jetzt dein letztes oder vorletztes Buch! Soll es wirklich dieses Thema sein?

Haben Sie Tagebücher oder Briefe aus der Zeit aufgehoben?

Ja, ich habe mein Leben lang Tagebuch geführt. Mal ausführlich, mal knapp, aber eigentlich immer. Also da gibt es einen Haufen.

„Die Frau an der Bushaltestelle“ hat zwei männliche Hauptfiguren: Der eine erzählt, der andere ist Schriftsteller. Wer sind Sie? Stecken Ansichten und Erlebnisse von Ihnen in beiden?

Ja, in beiden, aber auch in Isabel. Ich hatte das Gefühl, ich kann die Geschichte nur erzählen, wenn ich mit dieser Dreierkonfiguration arbeite.

Isabel kommt aus der DDR, das ist für beide Männer reizvoll, weil es ihr ein Geheimnis gibt. Sie hat ein Vorleben, von dem sie nichts wissen.

Diese Figur hat mich immer wieder beschäftigt. Deshalb kommt sie in Tupfern in meinen verschiedenen Büchern vor.

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Emmanuele Contini/Berliner Zeitung
Zur Person
Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Süddeutschland auf, lebt in Berlin.  Er schreibt Erzählungen, Romane, Drehbücher und Essays. Zu seinen wichtigsten Werken zählen „Lenz“ (1973), „Der Mauerspringer“ (1982), „Paarungen“ (1992) „Rebellion und Wahn“ (2008), „Die Lieben meiner Mutter“ (2013) und „Club der Unentwegten“ (2017). Zuletzt erschien sein Roman „Vivaldi und seine Töchter“ (2019).

Das Buch „Die Frau an der Bushaltestelle“ ist gerade bei Kiepenheuer & Witsch erschienen (320 Seiten, 25 Euro).

Diesmal ist Isabel auch eine Hauptfigur.

Ja, sie ist die zentrale Figur, deren Entscheidungen die gesamte Handlung vorantreiben. Als ich mich dieser Figur wieder näherte, fragte ich mich, ob ich die Wucht der Anziehung zwischen Nick und Isabel mit meinen 80 Jahren würde sichtbar machen können; ob das nicht peinlich ausfallen würde. Die richtigen Wörter würden fehlen, die Sprache wäre die eines alten Mannes. Da habe ich dann vieles, gerade was die Anziehung zwischen den beiden angeht, stark reduziert. Deshalb möchte ich Sie fragen: Kann man diese Anziehung überhaupt nachvollziehen als Leser?

Ja, es ist klar, dass es eine Frau ist, die durch ihr Eintreten einen Raum verändert. Man hat das Gefühl, sie ist sich ihrer Ausstrahlung bewusst, spielt die aber nicht aus. Als Leserin mit Ost-Hintergrund hätte ich es Ihnen übelgenommen, wenn Sie geschrieben hätten, dass die Ost-Frauen erotischer seien oder so, solche 90er-Jahre-Klischees. Gut finde ich die Gespräche der Männer mit ihr über deutsche Geschichte. Sie wusste mehr über die Nazi-Vergangenheit als der Erzähler.

So war es doch! In der DDR wurden die Bürger weit mehr über die Verbrechen des Nazi-Faschismus informiert als in der BRD, allerdings so gut wie gar nicht über die Verbrechen an den Juden, so doch über die an den Kriegsgefangenen und den Kommunisten. Ich hatte in der Schule nicht eine einzige Geschichtsstunde, die über 1918 hinausging. Später habe ich das Buch „Und wenn wir eine Stunde gewinnen ...“ über den jüdischen Musiker Konrad Latte, der im Versteck überlebte, nur geschrieben, weil ich fand, dass zumindest meine Kinder diese Geschichten kennen sollten. Jedenfalls haben Isabel und Nick ganz verschiedene Ansichten und Gefühle hinsichtlich ihrer Heimat. Dieser Unterschied wirkt sich auch auf die Entwicklung ihrer Schuldgefühle gegenüber der deutschen Vergangenheit aus.

Blick vom Schreibtisch: Peter Schneider in dem kleinen Garten hinterm Haus
Blick vom Schreibtisch: Peter Schneider in dem kleinen Garten hinterm HausEmmanuele Contini/Berliner Zeitung

Wie wurden sie schuldig?

Nicht sie selbst. Aber ist Ihnen mal aufgefallen, dass die jungen DDR-Deutschen nie diese extremen Schuldgefühle hervorgebracht haben, deutsch zu sein, wie das bei einem Teil der jungen Westdeutschen der Fall war?

Ja, weil im Osten immer gesagt wurde, wir sind die Guten. Die Nazis sind alle im Westen. Kamen Sie sich beim Schreiben wie ein Veteran vor, der über die erlebte Zeit den Jüngeren noch etwas mitteilen will, was man eben sonst vergisst?

Die Antwort darauf ist gar nicht leicht. Ich bin beim Schreiben darauf gekommen, dass wir 68er doch eine sehr beschädigte Generation waren, jedenfalls der Teil, der später zu Aktivisten geworden ist und sich ein paar Jahre lang als Berufsrevolutionäre gefühlt und auch betragen hat.

Wie meinen Sie das mit der beschädigten Generation?

Unsere ersten Sinneseindrücke sind Bombenangriffe gewesen, Fluchten, die nicht aufhörten, man weiß nicht mehr, wo die Mutter ist oder das Geschwister und jeder Tag ist anders, auf nichts kann man sich verlassen. Meine Erinnerungen an das Kriegsende und die frühe Nachkriegszeit kann ich zu einem Teil noch aufrufen. Aber erst später begriffen wir: Die Generation unserer Väter und Mütter ist für die größten Verbrechen der Menschheit verantwortlich. Gott sei Dank haben nicht alle mitgemacht, aber doch viel mehr, als wir damals wussten und  wissen wollten. Und es ist für niemanden gut, wenn eine Generation zu dem Schluss kommt, dass sie den eigenen Eltern nicht trauen kann, nicht trauen darf.

Wenn ich die jetzigen Mittzwanziger sehe, geht es dieser Generation aber auch nicht so gut. Die hatten in ihrer Ausbildungs- oder Studienzeit den Corona-Lockdown und haben die Klimakatastrophe vor sich. Sehen Sie das auch?

So schlimm wie die Zeitläufte heute sind, waren sie noch nie in meiner Lebenszeit. Wir haben heute mit zwei Kriegen zu tun, die ganz nah sind. Wir haben diesen unberechenbaren amerikanischen Präsidenten Trump, der weder an die USA noch an Europa, sondern nur an sich und seinen Clan denkt. Und was das Klima angeht: Ich fürchte, wir schaffen das nicht. Wir sind vielleicht intelligent genug, aber wir sind nicht konsequent genug. Wir fallen immer wieder auf die Volksverführer herein, die das Problem abstreiten.

Wenn Sie jetzt 35 Jahre nach dem Mauerfall über Berlin schreiben: Wie hat sich die Stadt für Sie verändert?

Die Hälfte dessen, was ich geschrieben habe, spielt ja hier – in der geteilten Stadt. Berlin ist nie eine schöne Stadt gewesen, aber West-Berlin ist in mancher Hinsicht eine Insel der Glücklichen gewesen. Wenn Sie nur diesen einen Punkt nehmen, der jetzt plötzlich aktuell wird, den Wehrdienst. 1965 bin ich 25 Jahre alt gewesen. Den Gedanken, für dieses Land sterben zu müssen, haben wir damals nicht zugelassen, er war geradezu undenkbar.

Na ja, es war nur in West-Berlin undenkbar.

Das stimmt, aber in West-Berlin war es so. Wir sind ja aus diesem Grund hierhergekommen. Ich wurde gemustert und bin dann gleich nach Berlin umgezogen, denn ich war tauglich. Hier musste man nicht dienen. Übrigens gab es damals sehr viele junge Leute hier und noch mehr alte Leute, aber ganz wenig Leute in ihren sogenannten besten Jahren, die im normalen Berufsleben standen. Da hat sich seit der Wiedervereinigung eine ganze Menge geändert.

Wie haben Sie das Weggehen erlebt?

Es war typisch für unsere Generation, dass viele sich mit den Eltern verstritten hatten, obwohl sie sich immer noch vom Elternhaus finanzieren ließen. Ich bin nicht stolz auf das, was ich meinen Eltern alles zugemutet habe, was für Gesprächen ich sie aussetzte. Denn ich hatte ja Glück mit meinem Vater, der Musiker war, nicht in der Partei, und der den Krieg ablehnte.

Die Bezahlung durch die Eltern im Westen ist auch ein Phänomen der Nachwendezeit. In den 90er-Jahren kamen sehr viele aus der alten Bundesrepublik nach Berlin, vor allem nach Prenzlauer Berg, und zogen in Wohnungen, die ihnen die Eltern kauften.

Stimmt, in Prenzlauer Berg hat ein Bevölkerungsaustausch stattgefunden. 90 Prozent der Leute, die man dort trifft, haben dort vor 30 Jahren nicht gewohnt. Die Schwaben und andere Westdeutsche haben sich diesen Stadtteil erobert. Es waren nicht die DDR-Bürger, die dort von ihrem Erbe Häuser und Wohnungen kaufen konnten. Meine Generation war die erste in der Bundesrepublik, die etwas geerbt hat. Das galt nicht für die Nachkriegsgeneration in der DDR. Die hat nie etwas geerbt. Ich wundere mich, dass die Vereiniger, die am 3. Oktober feiern, keine Idee hatten, wie man diesen Nachteil wenigstens ein bisschen ausgleichen könnte.

Wenn Sie an die Zeit zwischen „Mauerspringer“ und heute denken: Sind Sie zufrieden damit, was aus der wiedervereinigten Stadt geworden ist?

Machen wir uns nichts vor: Die Wiedervereinigung ist schiefgegangen. Das Schlimmste ist, dass die AfD daraus hervorgegangen ist und die anderen Parteien keine Idee haben, wie mit diesem Ergebnis umzugehen ist. Einfach zu sagen: keine Zusammenarbeit mit dieser „gesichert rechtsextremistischen Partei“, keine Gespräche, Brandmauer hoch – hat die AfD nur stärker gemacht. Du kannst einer Partei, die inzwischen fast zwölf Millionen Wähler repräsentiert, nicht sagen: Euch gibt es nicht für uns. Ihr existiert gar nicht. Dann sagst du das auch den Wählern, die diese Partei gewählt haben: Wir nehmen euch nicht wahr, wir wollen von euch nichts wissen! Das ist doch eine hirnverbrannte Art, mit so einem Problem umzugehen. Bei dieser Vereinigung  ist richtig viel schiefgegangen. Die sogenannten Sieger, sie haben vieles nicht gesehen oder nicht sehen wollen. Zum Beispiel die Arbeitslosigkeit und Zukunftslosigkeit der Fünfzigjährigen.

Sie meinen im Osten nach der Wende?

Ja, da ist eine ganze Generation verabschiedet und aufs Altenteil geschoben worden. Die haben zwar eine kleine Rente bekommen, aber sie fühlten sich überflüssig und waren plötzlich überflüssig. Und deren Kinder haben gemerkt, dass ihre Eltern und alles, wofür die Eltern mal standen, plötzlich wertlos war oder für wertlos erklärt wurde.