Als die russischen Truppen den Angriffskrieg gegen die Ukraine begannen, schrieb Ljudmila Ulitzkaja einige Zeilen über den Schmerz, die Angst und die Scham, die sie empfand. Die russische Schriftstellerin, die seit Jahren auf den Wettzetteln steht, wenn über die Vergabe des Literaturnobelpreises gemutmaßt wird, blieb in ihren Worten nicht allgemein. Sie befand: „Die Verantwortung für das, was heute geschieht, tragen aber auch wir alle, die Zeugen dieser dramatischen Ereignisse, weil wir sie nicht vorherzusehen und zu verhindern vermochten.“
Der Krieg hat direkte Auswirkungen auf sie: Ljudmila Ulitzkaja wohnt jetzt – vorerst, auf dringenden Rat eines ihrer Söhne – mit ihrem Mann, dem Bildhauer Andrej Krassulin, in Berlin. Sie bezeichnet sich selbst als „nicht politisch aktiv“, doch sind genug Äußerungen von ihr gegen Putins Politik nachzulesen, die sie jetzt zur Staatsfeindin machen. „Der Wahnsinn eines Mannes und seiner ihm ergebenen Handlanger bestimmt das Schicksal des Landes“, schrieb sie am 24. Februar. Als sie am Montagabend im Literarischen Colloquium Berlin (LCB) auf dem Podium sitzt, ist es denn auch keine Buchpremiere, wie eigentlich geplant.
Gerade ist ihr Erzählungsband „Alissa kauft ihren Tod“ erschienen, der beim oberflächlichen Lesen historisch wirkt, wie ein Dokument aus einer Zeit, als die Uhren noch langsamer gingen. Es sind Geschichten von Frauen, die in familiäre, damit aber auch in die gesellschaftlichen Verhältnisse verstrickt sind. Auch über die Rolle der Frauen in Russland wird an dem Abend gesprochen.
Ljudmila Ulitzkaja war selbst auf der Straße
Die Verantwortung tragen wir alle, sagt sie. Ulitzkaja gehört zu den Repräsentanten des anderen Russland, deren Stimmen überall in der Welt vervielfältigt werden sollten, solange es in der Heimat nicht möglich ist. „Selbstmörderisch und gefährlich“ nannte sie die Politik ihres Landes 2014 nach der Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn in Donezk und Luhansk, sie sei „in erster Linie eine Bedrohung für Russland selbst, könnte aber durchaus zum Auslöser eines dritten Weltkriegs werden“. Das steht so in „Die Kehrseite des Himmels“ aus dem Jahr 2015 mit Essays und autobiografischen Texten.

Weitere Bücher sind bei Hanser und dtv lieferbar.
Die Dokumentation „Berühmt und unbequem – Ljudmila Ulitzkaja“ von Eva Gerberding ist bis 13. Juni 2022 in der Arte-Mediathek abrufbar.
Auch das Gespräch im Literarischen Colloquium Berlin mit Elke Schmitter ist noch online verfügbar auf icb.de
Im Dezember 2011, als in Moskau so viele Menschen wie nie zuvor seit dem Ende der Sowjetunion auf die Straßen gingen, sprach Ulitzkaja auf einer Demonstration in Moskau. Das war nach den Duma-Wahlen, bei denen die Fälschungen offensichtlich waren. Das war, als Wladimir Putin angekündigt hatte, vom Premierminister- wieder auf den Präsidentenposten zu wechseln. Es gibt Bilder von ihrem Auftritt im Mantel mit doppelter Kapuze und Mikrofon in der Hand. Das Arte-Porträt „Berühmt und unbequem – Ljudmila Ulitzkaja“ wurde vorab im LCB gezeigt. Im Interviewausschnitt nach der Demonstration sagt die Schriftstellerin: „Einerseits schweige ich nicht, andererseits verstehe ich, wie wenig ein einzelner Mensch in dieser Situation bewirken kann. Denn es müsste das gesellschaftliche Bewusstsein erneuert werden. Und das sehe ich nicht.“
Die Spiegel-Redakteurin Elke Schmitter, selbst Schriftstellerin, die Ulitzkaja schon mehrfach in Moskau besucht hat, führt das Gespräch in Berlin. Wiederholt knüpft sie mit ihren Fragen an die Demokratiebewegung von 2011 bis 2013 an, versucht Ulitzkaja zu entlocken, warum diese Bewegung gescheitert ist und ihre Kraft heute nicht wiederbelebt werden kann. Das ist der Punkt, an dem die Moderatorin wohl auf eine Antwort darauf hofft, was im Moment zu tun wäre. Zumal es heißt, die Veränderungen müssten aus Russland selbst kommen. Das ist allerdings hörbar auch der Punkt, an dem Ulitzkaja nicht weiterweiß.
Ganna-Maria Braungardt und Ljudmila Ulitzkaja sind ein Duo von Anfang an
Vielleicht erschöpft sie der Gedanke, vieles ausgesprochen, aber wenig erreicht zu haben. Vielleicht steckt ihr der Umzug in den Knochen, auch wenn sie die Berliner Wohnung schon seit ein paar Jahren hat. Sie sitzt eng neben Ganna-Maria Braungardt, die für sie dolmetscht, als wäre sie ihr Sprachzwilling. Braungardt (auch Übersetzerin der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch) hat gelernt, Ulitzkajas Gedanken zu folgen, kennt sie seit Beginn ihres Schreibens, übersetzte bereits ihre erste Erzählung „Sonetschka“, die 1994 in einen Sammelband beim Verlag Volk und Welt Eingang fand, 1997 dann den ersten Roman „Medea und ihre Kinder“.
Ulitzkaja sagt, das 20. Jahrhundert habe ja eigentlich erst mit dem Ersten Weltkrieg begonnen. Und das 21. Jahrhundert beginne erst jetzt. Sie empfinde ein großes Gefühl der Verantwortung, führt sie aus, „als wäre mein letzter Tag angebrochen“. Das erklärt sie so, „dass möglicherweise keine Zeit mehr bleibt, sich zu entschuldigen“, und zieht einen Vergleich zum christlichen Brauch, den Priester kurz vor dem Tod zur letzten Beichte zu holen. Mit der Katstrophe dieses Krieges stehe die Menschheit vor dieser Situation.
Man sieht es der Schriftstellerin nicht an, wie ihr die Situation zusetzt, sie spricht ruhig, gestikuliert nicht. Es sind ihre Sätze selbst, aus denen die Unruhe, die Nervosität spricht, wenn sie innerhalb ihrer Antworten immer wieder vom Einzelnen zur Gesellschaft wechselt.
Ljudmila Ulitzkaja, die selbst eine Krebserkrankung überstanden hat, führt gerade in ihrem neuesten Buch ihre Figuren an solche entscheidenden Momente, das Endgültige zu sagen, sich nicht mehr entschuldigen zu können. Die titelgebende Alissa möchte selbst bestimmen, wann es mit ihr zu Ende geht, weil sie glaubt, allein für sich verantwortlich zu sein. Und dann landet sie doch in einem Beziehungsgeflecht, wo ihre Selbstständigkeit egoistisch wäre und anderen schaden könnte. Sogar die patente Lidija in der Erzählung „Züü-rich“, deren Anfang Ganna-Maria Braungardt im LCB vorträgt, muss feststellen, dass nicht alles im Leben planbar ist und der Wechsel in den Westen allein keine Garantie fürs Glück.
Die Männer sind im Gefängnis oder sie trinken
Wieso sie so oft von Frauen schreibe? „Russland ist ein Land der Frauen“, sagt Ulitzkaja und nennt drei Gründe, weshalb stets weniger Männer die Gesellschaft trugen: Sehr viele starben in den Kriegen, ständig seien die russischen Gefängnisse voll mit Männern, und von denen, die übrig seien, verfalle ein großer Teil dem Alkohol.
„Die Rolle des Beobachters liegt mir mehr als die der Demonstrantin“, sagt Ulitzkaja, wohl deshalb will sie das Gespräch jetzt in Berlin nicht zu einer Demonstration werden lassen. Sie spricht als Autorin, nicht als Anführerin einer Bewegung. Damals, 2011, seien alle ihrer Freunde auf die Straße gegangen. Heute sei eine andere Generation an der Reihe. Ulitzkaja ist 1943 geboren, wurde aus ihrem ersten Beruf als Genetikerin entlassen, weil sie Samisdat-Schriften weitergegeben hatte, zog die Kinder groß, fing beim Jüdischen Theater an, zunächst als Dramaturgin, und entdeckte, dass sie schreiben kann. Als sie ihre erste Erzählung veröffentlichte, war sie fast fünfzig.
Wissenschaft, die Beschäftigung mit der russischen Geschichte, mit Mythologie, das Verhältnis zum Judentum, all das führt sie in ihren Büchern zusammen. Da ist der Jude Daniel Stein, der zum Christentum übertrat, um Versöhnung zu erreichen, der 2006 einem großen Roman den Titel gab, da sind die dissidentischen, die Poesie verteidigenden Freunde in „Das grüne Zelt“ (2012) oder „Eine Seuche in der Stadt“, ein Filmszenario von 1978, nie realisiert und erst aus Anlass von Corona 2021 veröffentlicht. Im Nachwort sah sie die Pandemie noch als Chance, „dass sich das politische Weltsystem reformieren wird und man dazu übergeht, sich weniger mit egoistischen nationalen Fragen zu beschäftigen“.


