Deutscher Buchpreis

Jan Faktors „Trottel“: Dem Tod des Sohnes mit Literatur beikommen

Dieser ausgezeichnete Roman voll schwarzem Witz und Lust an der Beschreibung Prags und Ost-Berlins erschreckt und beglückt seine Leser.

Die „Kleinscheißstrukturarbeit“ des Romanschreibens: Der Schriftsteller Jan Faktor in seinem Arbeitszimmer in Berlin.
Die „Kleinscheißstrukturarbeit“ des Romanschreibens: Der Schriftsteller Jan Faktor in seinem Arbeitszimmer in Berlin.Emmanuele Contini

Gut möglich, dass Jan Faktor, obwohl nominiert, den Deutschen Buchpreis 2022 am Montag nicht bekommt. Sein Roman „Trottel“ hätte die Auszeichnung sehr verdient, vor allem deren Nachwirkung: den Status als Bestseller. Gut möglich aber, dass die Jury nach der Zuerkennung des mit 30.000 Euro dotierten Wilhelm-Raabe-Literaturpreises Ende September an Faktor das Buch nicht mehr auf dem Zettel hat. Solange der Roman gelesen wird, hätte das seine Ordnung.

Unangemessen wäre jedoch, wenn sich Leute durch Vorurteile, etwa, dass der Autor zunächst Lyriker war, dessen Dichtung man mit „experimentell“ beschrieb, von diesem Buch abhalten ließen. Faktor, 1951 in Prag geboren, Ende der 70er-Jahre nach Berlin gekommen, hatte in den Wohnungslesungen der damaligen Prenzlauer-Berg-Szene seine ersten (nicht öffentlichen) Auftritte. In den 2000er-Jahren zeigte er einer größeren Kritikerschar, dass seine Dichtung keinen Nischenplatz braucht. Damals debütierte er als Romanautor mit „Schornstein“ und legte nach mit „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“. Dass dann zwölf Jahre lang kein Buch von ihm erschien, hängt mit dem wahren Hintergrund des neuen Romans zusammen.

Es hat Jahre gedauert

„Trottel“ erzählt ein bisschen die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers, der sich selbst als Trottel definiert. Der ist Schriftsteller, hat im Sozialismus tschechoslowakischer und ostdeutscher Ausprägung handwerkliche Fähigkeiten erworben und stolpert durch die Tage. Das Buch ist jedoch vor allem dazu da, dem Tod des Sohnes mit Literatur beizukommen. Es habe „Jahre gedauert, bis ich mir einige einfache Sätze, die meinen Sohn betrafen, auf einen Zettel notieren konnte“, räumt der Erzähler ein.

Kinder sollen nicht vor den Eltern sterben. Kinder sollen sich nicht entscheiden, vor ihren Eltern sterben zu wollen. Woher kommt dieses „sollen“? Aus der Natur, dem Lauf der Welt. Die Natur aber oder wer sonst bewirkte jedoch, dass der Sohn, der Trottelsohn, unter Ausprägungen von Tics, Manien, Depressionen, schließlich Schizophrenie litt, denen mit Medikamenten kaum und mit guten Worten schon gar nicht beizukommen ist.

Der Autor nimmt den Kampf mit der Krankheit auf, indem er sie von verschiedenen Seiten, frühen Kindheitsmomenten, der Pubertätsunruhe und den jungen Erwachsenenjahren her packt und den Schrecken ein wenig kleiner macht. Ist das möglich? Ja, durch unerschrockenes Erzählen. „Unser Sohn muss schon relativ früh Erfahrungen mit düsteren Stimmungen gemacht haben, unabhängig davon, wie gern und wie viel er sonst auch lachte.“ Zum Spiel des Romans gehört, dass er das Schreiben selbst als Gegenstand aufgreift: die fragwürdige Existenz als trauernder Schriftsteller und dessen Wirkung auf Lektorat und Leser.

Das Deutsche und seine Schachteln

„Was ist der Grund für meine gute Laune? Einfach alles.“, steht auf der Titelseite des Buches, womit der Werkzeugkasten des Schriftstellers (und zeitweiligen Schlossers) Faktor geöffnet ist: Es finden sich darin ein grimmiger Humor („gelogen wurde in der DDR besonders im Namen der frierenden Tagebaukohle“), ein genauigkeitsbesessener Beschreibungsfuror und das Ausreizen der syntaktischen Möglichkeiten mit logisch geschachtelten Sätzen. Oft sind sie um Fußnoten von eigenem Witz ergänzt. Faktor genießt die Wortbildungsmöglichkeiten, die das Deutsche dem Tschechischen (seiner ersten Sprache) voraushat. Matratzeninternationale, Prostatagonisten, Prügelpolizisten, Sorgfaltsdefizit, Wohnraumbeschaffungsanarchie. Das macht trotz des sich im Roman ankündigenden Suizids Freude zu lesen.

Man muss sich allerdings in ein Gebilde wagen, in dem der Trottel-Erzähler zwar teilweise nummerierte Kapitelüberschriften verwendet, jedoch nicht immer der Chronologie folgt. Während der „äußerst popligen Kleinscheißstrukturarbeit“ des Romanschreibens (so der Erzähler über die Arbeit des Erzählens) hat er ungeschliffene Kanten stehen lassen. Dieser Roman braucht Zeit am Stück, egal ob am Küchentisch oder auf dem Sofa. Er verweigert sich den Ungeduldigen, die auf Kurzstreckenfahrten hineinlinsen wollen.

Apropos unterwegs. Die Erlebnisse des Ich als Fußgänger (gern in Arbeitskleidung mit Hammer in der Hand) oder Zugfahrer sind zunächst in olfaktorischer, geschmacklicher und optischer Hinsicht geschildert, vom nach der Unterdrückung des 68er-Frühlings erniedrigten Prag ins durch Zerfall und Improvisation lebendige Ost-Berlin beziehungsweise die „Deutsche Provisorische Republik“, das „Land der Dichter und Dichtungen“. Dieses Sinnliche überzeugt durchweg. Dabei ist es „kein Wenderoman“, wie der Erzähler klarstellt, in allergrößter Not schlägt er per Fußnote „Systemimplosionsroman“ vor. Die „ekstatische Freude“ des Herbstes 1989 bleibt Randerscheinung.

Musik und Texte von Rammstein

Zum Riechen und Sehen kommt später der Hörsinn des Trottels dazu, besonders empfänglich für Musik und Texte von Rammstein. (Keine Sorge, man muss diese Sympathie nicht teilen; die hier schreibende Person las interessiert alle Hinweise auf Till Lindemanns Songs, ohne sich zuvor oder danach selbst dafür zu begeistern.) Hinzu kommt die unbremsbare Leidenschaft fürs Rennradfahren, die der Trottel in seiner Trauer und Überforderung sogar nutzt, um eine Herzschwäche durch gezielte Belastung zu überlisten.

Ja, Trauer. Bei all dem schwarzen Witz und erzählerischen Winkelzügen, der abschweifenden Berlinbetrachtungsgenauigkeit, der erwähnten Verehrung für Dichterkollegen wie Bert Papenfuß und Stefan Döring, der erkennbaren Hommage an die Schriftsteller Adolf Endler und Wolfgang Hilbig, wozu die eingestreute Verachtung für die Stasispitzel in der Szene gehört, kommt die Trauer oft wie ein Kälteschauder aus den Seiten. Eben noch gelacht und dann: „Unser Sohn hat es in der Klinik nicht geschafft, sich umzubringen.“

Aber später. Nach gründlicher Vorbereitung. Hier soll nichts stehen über die Schwärze danach für den Erzähler und seine Frau. Er findet Worte dafür.

„Trottel“ ist ein großes Buch, das jeden Preis verdient hat. Und viele Leser.

Jan Faktor: Trottel. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 400 Seiten, 24 Euro.