Frauen in Afghanistan

Eine Kampfansage an die Umstände: Fatema, wie geht es Dir in Afghanistan?

Eine deutsche und ein afghanische Schriftstellerin beginnen einen Briefwechsel: In der Zeit der Unsicherheit suchen sie die richtigen Worte.

Szene vom alten Markt in Kabul
Szene vom alten Markt in KabulAP

Ein Brief kann ein Anfang sein, um der Sprachlosigkeit zu entgehen. Das Berliner Netzwerk Weiter Schreiben und das Londoner Förderprogramm für Schriftstellerinnen in Krisen- und Konfliktgebieten Untold haben im Sommer gemeinsam mit der KfW-Stiftung die Initiative „Untold – Write Afghanistan“ gestartet, um Frauen in Afghanistan in Kontakt mit der Öffentlichkeit zu bringen. Zum Jahrestag des Abzugs der USA und ihrer Verbündeten schrieben sich Svenja Leiber aus Berlin und eine junge Autorin und Politikwissenschaftlerin aus der Balkh-Provinz im Norden Afghanistans zum ersten Mal.

Svenja Leibers Brief nach Afghanistan

Liebe Fatema, Dir schreiben zu wollen bedeutet für mich, an einem Steilhang zu stehen. Jedes falsche Wort könnte eine Lawine auslösen, die das gesamte Vorhaben mit sich reißt. Der Steilhang, gebildet aus Ungerechtigkeiten, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, erzeugt eine Ungleichzeitigkeit, in deren Wirkungsfeld sich zwei Frauen, zwei Schriftstellerinnen, im Abstand von fast fünftausend Kilometern unterhalten wollen; einfach reden, über ihre Arbeit, ihre Erfahrungen, ihre Ängste, ihre Freuden – aber so einfach ist es vielleicht nicht. Für mich ruft der Umstand jener Ungerechtigkeit zunächst ein so schwieriges Gefühl hervor, dass mir schon die simple Frage, die ich am dringendsten, am liebsten und zuallererst stellen möchte, kaum über die Lippen kommt, nämlich die Frage, ob es Dir gut geht. Und doch meine ich sie ernst und nehme sie als innere Überschrift für meinen Briefversuch an Dich, liebe Fatema: Geht es Dir gut?

Sollte ich diese Frage überhaupt stellen? Wenn man sie mir stellt, läuft man Gefahr, mich vielleicht sogar weinen zu sehen. Nicht, weil es mir schlecht geht, sondern weil sie an ein tief eingeübtes Verhalten rührt, welches ich ganz offensichtlich übernommen habe, wie es schon meine Mutter von ihrer Mutter übernommen hat: nicht danach zu fragen, wie es uns selbst geht. Die eigenen Bedürfnisse hintanzustellen – offenbar ist das auch hier, in meiner scheinbar so emanzipierten Gesellschaft, für viele Frauen selbstverständlich.

Vielleicht hat diese Frage, wenn ich sie einer Frau stelle, für mich darum auch den Charakter einer Kampfansage. Einer Kampfansage an die Umstände, die uns nicht nur über Jahrhunderte ein eigenes Sein absprechen wollten, sondern auch den Mut, uns selbst nach diesem Sein und seinem Zustand zu befragen.

Alles begann mit einer Flaschenpost

Aber vielleicht fange ich trotzdem noch einmal anders an, vorsichtiger, damit Du eine Ahnung bekommst, wer überhaupt fragt: Ich weiß nicht mehr, wie oft ich als Kind Briefe geschrieben oder Landkarten mit meinem Aufenthaltsort bemalt, aufgerollt, in eine Flasche gesteckt und in irgendein Gewässer geworfen habe, stets überzeugt, eines Tages eine Antwort zu erhalten. Wie Gebete wurden die kindlichen Nachrichten versandt, eine Glaubenssache, dass sich einst ein Gegenüber finden werde.

Es gibt kein Sprechen ohne ein wenigstens imaginäres Gegenüber. Bis heute schwimmen die alten Nachrichten wohl irgendwo, unverdrossene Kapseln in denen, gerade weil sie ihre unbekannten Adressaten noch nicht erreicht haben, etwas wie Zukunft eingeschlossen ist, Hoffnung.

Die Flaschenpost war im Grunde der Beginn meines Schreibens. Mein eigener Ort, mein eigenes Sprechen gingen mit ihr auf Reisen, verließen den Ursprung und kamen nie an. Und selbst wenn meine Texte heute ihre Leser*innen erreichen, bleibt mir ein Gefühl der Ortlosigkeit, als hätte ich mir eben jenen Beruf ausgesucht, der niemals fertig wird, niemals ankommt.

Von Afghanistan hörte ich zum ersten Mal 1982, in der ersten Klasse. Meine Lehrerin hatte als junge Frau dort gearbeitet, konnte Farsi sprechen und verwunderte uns mit der Vorführung eines hellblauen Schleiers, an dessen Echtheit wir kaum glauben konnten. Ein knappes Jahr später zogen meine Eltern mit meinen Brüdern und mir nach Riad und für mich vermischten sich die Vorstellungen von Afghanistan und Saudi-Arabien auf verwirrende und kindliche Weise, ahnungslos in Bezug auf die Tatsache, dass sich die Geschichte der beiden Länder zur gleichen Zeit auch real und fatal zu vermischen begann. Erst viel später, bei der Recherche für meinen dritten Roman, begann ich die politischen und kulturellen Gegebenheiten Deines Landes etwas zu studieren, die schier endlose Abfolge wechselnder Herrscher, wechselnder Einflüsse aus wechselnden Ländern und mit wechselnden Interessen.

Der alte Ukrainer möchte zurück

War es eine vorhersehbare Entwicklung, dass sich die von den Großmächten ehemals in Afghanistan ausgetragenen Konflikte jetzt, wo man Afghanistan so abrupt verlassen hat, plötzlich in der Ukraine abspielen, wenn auch unter anderen Bedingungen? Die Tragik und Grausamkeit einer gewissen Konstellation lässt sich bis in den Slogan „unsere Freiheit werde verteidigt“ wiedererkennen und ist doch auch ganz anders. Vielleicht kommen wir auch darüber ins Gespräch. Denn was ist nun, heute, mit Deiner Freiheit, wo meine Freiheit nun offenbar woanders erkämpft wird? Und wie denken wir über das Freisein insgesamt nach, vor allem das Freisein der anderen? Was ist es uns wert? Wie viele Menschenleben und welche? Das eigene auch?

Vor wenigen Tagen brachte ich mit meinem Mann zusammen einen sehr alten, sehr gebrechlichen Ukrainer nachts zum Bus. Er hatte sich entschieden, sich entweder hier das Leben zu nehmen oder zurück in die Ukraine zu gehen. Als ich ihn umständlich fragte, warum, schrieb er mir auf Ukrainisch auf einen Zettel: Ich bin zu alt, um deine Sprache zu lernen. Der Mann war ein einfacher Elektriker. Er saß auf dem Beifahrersitz, rauchte, und sagte also mir, der Schriftstellerin, er wolle lieber sterben als ohne Sprache zu leben. Und dann reiste er zurück in den Krieg.

Meine Familie blieb nicht lang in Riad. Die religiöse Erweckungsbewegung nahm gerade dort so deutlich an Intensität zu, dass meine Eltern nach Norddeutschland zurückkehrten. Mich erfreute die Rückkehr nur aus einem sehr banalen Grund: Es gab wieder Schwarzbrot. Ansonsten hatte meine Mutter die Begeisterung für Safranreis, Dattelkuchen und Mansaf mitgebracht und bekochte damit fortan alle, während uns, im Regen und Matsch des 54sten nördlichen Breitengrades, ein in seiner romantisierenden Tendenz sicher auch fragwürdiges Fernweh nach gewissen Landschaften blieb, was mich später zwar nicht wieder nach Saudi-Arabien, aber nach Syrien, Jordanien und Israel führte.

Inzwischen lebe ich seit bald dreißig Jahren in Berlin. Umgeben von einer Architektur, der in verwirrender Gleichzeitigkeit die Geschichte von Gründung und Zerstörung, von Nationalismus, Antisemitismus, Kommunismus und Kapitalismus abzulesen ist, lebe ich mit meiner Familie in einer Eckwohnung im vierten Stock und genieße den Umstand, dass im Nachbarhaus mehrere Musiker*innen auf ihren Instrumenten üben, sodass ich im Grunde wie im Block C der Berliner Philharmonie wohnhaft bin. Während dieser virtuosen Gratiskonzerte gehe ich dem Schreiben nach, wobei ich oft nicht weiß, ob ich eher suche oder finde und was von beidem mir lieber ist.

Immer auf der Suche

Es ist somit kein Zufall, dass meine Figuren weitgehend Suchende sind, Scheiternde (auch mal Musiker), die immer wieder das Selbstbild (der Westeuropäer*innen) zu hinterfragen und zu untergraben versuchen, die allen Glauben, jede Gewissheit, letzte Gemeinschaft verloren haben. Es sind versehrte Gestalten, herausgebrochen aus der Biedermeier-Gemütlichkeit einer Gesellschaft, die so gerne meint, alles richtig zu machen, auch nach der größten Katastrophe, die Menschen überhaupt anrichten konnten. Es sind Figuren, die die Ratlosigkeit und Zwangsläufigkeit der Vereinzelung des Individuums zu verstehen und zu ertragen versuchen, auch wenn ihnen das meist misslingt.

Liebe Fatema, ich bin sehr gespannt, inwieweit sich auch unser schriftliches Gespräch als Suchen oder als Finden wird beschreiben lassen; ich bin, falls ich darf, sehr gespannt auf Deine Gedanken, Fragen und Sichtweisen; ich bin gespannt auf Nachricht aus Afghanistan. Damit schließe ich für heute, freue mich auf Antwort von Dir und hoffe, wenigstens für jetzt, dass es Dir gut geht. Svenja

Berlin, den 3.7.2022 


Fatema Keys Brief aus Afghanistan

Liebe Svenja, dass wir beide, zwei Menschen, die sich nicht kennen und nie zuvor begegnet sind, einander Briefe schreiben, ist für mich ebenfalls eine sehr interessante Erfahrung. Mich erinnert sie an die Geschichte von Judy Abbot, einem Charakter aus der Anime-Serie „Das Geheimnis von Daddy Langbein“, die während meiner Kindheit sehr beliebt gewesen ist.

Du fragst, ob es mir gut geht. Ich antworte Dir, wie ich es seit dem Sturz meiner Regierung immer getan habe: Wenn „gut gehen“ bedeutet „am Leben sein“– ja, dann geht es mir gut. In wenigen Tagen jährt sich der Sturz der „Islamischen Republik Afghanistan“. Ich werde an diesem Tag die Nationalhymne und andere patriotische Lieder spielen und weinen. Als die Regierung vor einem Jahr fiel, konnte ich nicht weinen. Erst jetzt habe ich ein Bedürfnis und die Hoffnung, dass ich mich wieder etwas mehr in mich selbst zurückverwandle, wenn ich endlich weinen kann.

Die Republik war mein Zwilling

Liebe Svenja, es ist kein einfaches Thema. Die Republik Afghanistan und ich haben zwanzig Jahre unseres Lebens miteinander geteilt. Sie hat mein Leben begleitet wie ein Zwilling. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem ich im Fernsehen die Nachrichten von dem Einmarsch der Amerikaner gesehen habe. Ich war damals im Exil, als mein Land befreit wurde, ein Teenager, fast noch ein Kind. Von der Freiheit meines Landes zu hören, hat mir ein Gefühl von Stolz verliehen.

An dem Tag, an dem wir mit Tausenden anderen Familien in unser geliebtes Land zurückkehrten und den Boden dort küssten, fühlte ich mich, als wäre ich ein zweites Mal geboren worden. Die ersten Tage nach der Einreise waren hart. Wir hatten keinen Zugang zu Trinkwasser und keinen Strom. Die nächste Schule und das nächste Krankenhaus waren kilometerweit von uns entfernt und da es keinerlei Verkehrsmittel gab, mussten wir alle Wege zu Fuß laufen. Aber Liebe war da, und wichtiger noch als Liebe: Hoffnung.

Die ersten zehn Jahre in der Republik Afghanistan waren schwer für mich. Da auch meine Familie der traditionellen Kultur Afghanistans unterworfen war, musste ich die Schule abbrechen. Erst in meinen Zwanzigern konnte ich wieder eine Schule besuchen und trotz enormer Schwierigkeiten sogar arbeiten. Ich hatte gerade begonnen, Pläne für meine Zukunft zu schmieden und mir überlegt, in welchem Land ich mein weiterführendes Studium aufnehmen könnte, als …

An dem Tag im August, an dem die Regierung fiel und ich die Bilder Tausender meiner Landsleute sah, die in die Berge an die Grenze zum Iran flohen, sind mein Stolz und meine Hoffnungen in sich zusammengefallen.

Eine Ehe als letzte Hoffnung

Ob ich denn nicht bald heiraten möchte, wurde ich vor ein paar Tagen in einer Runde von meinen Freundinnen gefragt. Ich hätte weinen können. Vor dem Fall der Regierung habe ich keinen einzigen Gedanken ans Heiraten verschwendet. Mein Studium hatte für mich bisher immer oberste Priorität. Aber jetzt, da alles so unerreichbar für mich geworden ist, ist eine Heirat vielleicht die einzige Option, die ich noch habe.

Bevor die Regierung Afghanistans fiel, habe ich jedes Mal, wenn ich einen Konvoi von Militärfahrzeugen gesehen habe, für das Leben der Soldaten gebetet. Ich habe gebetet, sie mögen gesund aufbrechen und gesund zurückkehren und ich war stolz. Wenn ich jetzt diese Fahrzeuge sehe, die von Taliban gelenkt werden, kommen mir als erstes all die Soldaten, die im Kampf gegen die Taliban getötet worden sind, in den Sinn.

Mir geht es nicht gut. Ich bin sehr wütend. Auf mich und auf alle. Auf meine Landsmänner und -frauen, die die Regierungsgeschäfte stillschweigend anderen überließen, auf die Soldaten, die aufgegeben und auf die hochrangigen Staatsmänner, die unser Land verkauft haben und sich in Interviews jetzt fortwährend so inszenieren, als trügen sie keine Schuld. Selbst die Professoren meiner Universität waren an diesem Verrat beteiligt. Während meiner Studienzeit habe ich vor Ashraf Ghani gewarnt, ihn in den Seminaren einen untauglichen Präsidenten genannt, aber meine Professoren haben immer bloß auf seine hohe Bildung und die langjährige Erfahrung als Politiker und die Kompetenzen seiner Berater verwiesen. Mich behandelten sie, als verstünde ich nichts von Politik und läge mit meinen Analysen fehl. Jetzt haben sowohl die Staatsmänner als auch meine Professoren das Land verlassen.

Mir geht es nicht gut. Ich schäme mich und habe das Gefühl, vor mir selbst nicht bestanden zu haben. Ich habe erst zwei Monate vor dem Sturz der Regierung meinen Abschluss als Politikwissenschaftlerin gemacht, aber trotz meiner Expertise konnte ich nichts für mein Land tun.

Die Flucht stürzt in eine Identitätskrise

Du hast mir von dem Tag erzählt, an dem Du das erste Mal etwas von Afghanistan erfahren hast. Kannst Du glauben, dass ich, als wir nach Afghanistan zurückkehrten und gemeinsam mit einem Mann unterwegs waren, der Paschto sprach, nicht geglaubt habe, dass er ebenfalls Afghane ist? Niemand hatte mir irgendetwas über mein Land und seine Bewohner erzählt. Jetzt sorge ich mich um die jungen Menschen von heute und morgen, die Umherziehende, Emigranten, Flüchtlinge sein werden. Werden sie in eine Identitätskrise stürzen, genau wie ich? Meine Krise linderte sich mit der Rückkehr nach Afghanistan, aber was ist mit ihnen?

Du hast mir von Deinem Leben in arabischen Ländern geschrieben. Sprichst du etwa auch Arabisch? Ich wollte Arabisch lernen, um nach Beendigung meines Studiums als Nahostexpertin zu arbeiten und habe zum Unabhängigkeitsreferendum in Irakisch-Kurdistan geforscht. Jetzt bin ich ausschließlich mit dem chaotischen Zustand meines eigenen Landes beschäftigt. Im Gegensatz zu meinen Studienzeiten, in denen ich mich voller Energie meinen Recherchen und Artikeln gewidmet habe, bin ich jetzt kaum in der Lage zu schreiben. Ich fühle mich wie paralysiert, aber ich muss es versuchen, ich muss wieder zum Stift greifen und schreiben.

Du hast mich nach der Ukraine gefragt. Ja, Entscheidungen von Welt- und Regionalmächten haben beide Länder, Afghanistan und die Ukraine, zu Leidtragenden gemacht, aber ich kann nur für mein Land und meine Leute sprechen: Jedes Mal, wenn wir hätten aufschreien müssen, haben wir geschwiegen und die Diskriminierung aufgrund von Stammeszugehörigkeit, Sprache oder Religion grassiert unter meinen Leuten. Wir alle haben damit gerechnet, dass es in Afghanistan zu einem Krieg kommen wird, um die Armee und die Regierung zu stürzen, aber wir hätten niemals damit gerechnet, dass Russland die Ukraine überfällt. Wir haben Russland für zivilisiert gehalten und jetzt stellt sich das Gegenteil heraus.

Der Krieg trägt überall dasselbe Gewand

Ich kann mich in den Schmerz der Ukrainer hineinversetzen, ich fühle mit ihnen. Ich habe das Schluchzen einer Großmutter gehört, die tränenüberströmt zusieht, wie ihre Enkelkinder in Richtung Grenze gehen und das Weinen von Kindern, wenn ihr Vater sie der Mutter übergibt, um in der Stadt zurückzubleiben. Die Ängste der Menschen in der Ukraine bei dem Geräusch von Kampfflugzeugen habe ich selbst durchlebt. Der Krieg in der Ukraine hat in mir unwillkürlich die Ereignisse in Bosnien-Herzegowina wachgerufen. Vor allem ein Bild habe ich beständig vor Augen: Ein Vater, der seine Hände auf die Scheibe eines Busses gelegt hat, um sich von seiner Frau und seinem Kind zu verabschieden. Wie oft wiederholt sich dieses Bild jetzt wohl gerade in der Ukraine?

Der Krieg trägt überall dasselbe Gewand, ganz egal, ob er im Jemen, in Syrien oder in der Ukraine wütet. Er hat dasselbe Gesicht, ein grimmiges Gesicht, das von herzzerreißenden Schreien begleitet wird und verzweifelten Klagelauten. Aus Solidarität und Mitgefühl mit den Menschen in der Ukraine, möchte ich, dass man mich in diesen Tagen Oksana nennt.

Ob bewusst oder nicht, in meinen Erzählungen sind die Hauptcharaktere immer Frauen. Ich war immer bestrebt, über gesellschaftliche Konflikte zu schreiben, aber jetzt, wo ich mein Land in diesem Zustand sehe, geht das nicht mehr unbefangen. Wo würde ich meine Geschichten denn noch vorlesen können? Wer würde meine Erzählungen jetzt drucken? Der gegenwärtige Zustand hat meine Autorinnenseele sehr geschwächt. Aber keine Sorge: Ich bin ein hartnäckiger Mensch. Ich bin in meinem Leben schon mehrmals gefallen und wieder aufgestanden und jedes Mal ist mein Stand ein wenig fester geworden.

Liebe Svenja, danke, dass Du mir schreibst und meine fragmentierten Texte liest! Dich als Wegbegleiterin zu haben, ist, als könnte ich eine Therapeutin aufsuchen. In meiner Gesellschaft, in der für viele Menschen der Besuch bei einem Psychologen außerhalb ihrer Reichweite liegt, kann schon die Möglichkeit, jemandem seinen Schmerz anvertrauen zu können, eine Weise sein, Krankheiten der Psyche und der Seele zu lindern, und so ist unser Briefwechsel für mich nicht weniger heilsam als ein psychotherapeutisches Gespräch.

Ich danke Dir, Fatema

Balkh-Provinz, 16.7.2022. Der Name Fatema Key ist ein Pseudonym.

Aus dem afghanischen Persisch von Sarah Rauchfuß