Bücherfrage der Woche

Marcel Beyer, was sagt uns dieser Russe, der vor 100 Jahren in Berlin lebte?

Der Büchner-Preisträger Marcel Beyer schätzt den russischen Autor Viktor Schklowski. Er erklärt, wie dessen Werk beim Verständnis der Gegenwart hilft.

Der Schriftsteller Marcel Beyer. Zuletzt erschienen seine Erkundung „Das blindgeweinte Jahrhundert“ und der Gedichtband „Dämonenräumdienst“.
Der Schriftsteller Marcel Beyer. Zuletzt erschienen seine Erkundung „Das blindgeweinte Jahrhundert“ und der Gedichtband „Dämonenräumdienst“.dpa

Der russische Essayist und Drehbuchautor Viktor Schklowski lebte Anfang der 1920er-Jahre in Berlin im Exil. Der Guggolz-Verlag brachte jetzt in neuer Übersetzung seinen Briefroman „Zoo“ heraus, mit einem Nachwort des Dichters und Romanautors Marcel Beyer. Er wird das Buch am Donnerstag im Literaturhaus vorstellen, deshalb geht die Bücherfrage an ihn: Können wir mit diesen Texten von damals die Russen heute verstehen lernen?

Marcel Beyer: Viktor Schklowski fasziniert mich seit dreißig Jahren, weil er stets eine unvergleichliche Perspektive einnimmt – er ist ein Sonderling, aber kein Eigenbrötler. Er verkehrt in den Dichterkreisen seiner Zeit, er ist im Film zu Hause, er wirft sich also mit großer Energie und Wahrnehmungsschärfe mitten ins Geschehen, berichtet aber aus dieser Mitte heraus mit einem leicht schiefen, überraschenden Blick. Während seiner Exilzeit in Berlin meidet er die Sphäre der Exilrussen in Charlottenburg, doch indem er sie umkreist, erfährt man natürlich etwas darüber, und so entwerfen seine „Zoo“-Briefe an eine imaginäre Geliebte eher ein Selbstporträt, als dass sie ein Gesellschaftsbild zeichnen.

Im selben Jahr aber erschien ein anderes Buch von ihm, „Sentimentale Reise“, das Olga Radetzkaja vor einiger Zeit ebenfalls neu und hervorragend übersetzt hat. Seit Ende Februar verfolge ich den Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine täglich und parallel lese ich „Sentimentale Reise“ ein zweites Mal. Darin schildert Schklowski sein Leben in der Zeit von 1917 bis zu dem Zeitpunkt, als er Russland verlassen muss, weil ihm aus den Kreisen der neuen Machthaber signalisiert wird, man könnte ihn jederzeit und überall im Land ermorden lassen. Was Schklowski, der selbst mehrere Jahre beim Militär war, aus dem Alltag des Krieges berichtet, über die menschenverachtende Grundhaltung innerhalb der russischen Armee, erschüttert mich einhundert Jahre später umso mehr, als die tägliche Berichterstattung heute exakt dieselbe seelische Verrohung ans Licht bringt.

Ich kann es nicht beurteilen, weil ich das Glück habe, nicht verfolgt zu werden, aber vielleicht würden Menschen, die in unserer Gegenwart Russland oder Belarus verlassen haben, weil sie dort mit dem Schlimmsten rechnen müssen, in Schklowskis Schilderungen etwas von ihrer eigenen Wahrnehmung wiedererkennen.

Gespräch über Viktor Schklowskis „Zoo“: 29.9., 19 Uhr, Literaturhaus Berlin