Bücherfrage der Woche

Bücherfrage: Herr Thuswaldner, warum haben Sie einen neuen Kanon zusammengestellt?

Wolfgang Koeppen oder Anna Seghers? Thomas Mann oder Gabriele Tergit? Manche Bücher bleiben, andere  verschwinden. Anton Thuswaldner stellt einen Gegenkanon vor.

Anton Thuswaldner, Autor und Literaturkritiker aus Salzburg
Anton Thuswaldner, Autor und Literaturkritiker aus SalzburgRudi Gigler/imago

Nicht nur die Diskussion um Wolfgang Koeppen zeigt: Bücher, die lange allseits als wichtig galten, werden heute kritisch betrachtet. Andererseits hält sich die hohe Meinung über manche Romane, auch wenn sie womöglich kaum noch Leser haben. Das beschäftigt den österreichischen Literaturkritiker Anton Thuswaldner; er hat eine Lösung gesucht. Um sie geht es am Dienstag in der kulturellen Mittagspause Brown Bag Lunch im Literaturhaus. Herr Thuswaldner, warum haben Sie einen neuen Kanon zusammengestellt?

Anton Thuswaldner: Ein Kanon ist verhandelbar, nie abgeschlossen. Bücher, die für eine bestimmte Zeit wichtig sind, erweisen sich später als wenig notwendig, dafür rücken andere genauer ins Blickfeld. In den Sechzigerjahren war Thomas Mann noch die unumstrittene Größe, in den Siebzigerjahren war er weit abgeschlagen, Bertolt Brecht hatte ihm den Rang abgelaufen. Aber jeder Leser entwickelt sowieso seinen eigenen Kanon. Für das Buch „Ein Gegenkanon“ (Verlag Müry Salzmann) suchte ich Leute aus dem Literaturbetrieb, die kurze Essays zu Büchern oder Verfassern liefern sollten, die sie für maßlos überschätzt und grenzenlos unterschätzt halten. Bei der Auswahl sollte die Vielfalt der Möglichkeiten, mit Literatur umzugehen, zum Tragen kommen.

Wenn Ilija Trojanow einen Beitrag zusagt, ist zu erwarten, dass er auf entlegene Weltgegenden zu sprechen kommt, und wenn Vladimir Vertlib mit im Boot ist, wird jüdische Literatur zum Thema gemacht werden. So weit ist manches absehbar, aber mit eigenwilligen Zugängen und verheißungsvollen Entdeckungen ist immer zu rechnen. Sabine Scholl entschied sich dazu, über das Verschwinden der Frauen aus der Literaturgeschichte zu schreiben.

Am Anfang aber stand eine Einsicht. Viele Jahre lang beschäftige ich mich als Literaturkritiker mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Irgendwann störte es mich, wie vieles gelobt wird, was in der Qualität nicht heranreicht an das, was es schon gibt und keiner kennt. Schuld daran ist auch die gründliche Vernichtungsarbeit der Nazis, die Autorinnen und Autoren verjagten und ermordeten und deren Werke verbrannten, dass sie nicht einmal als Fußnoten in Literaturgeschichten vorkommen. Und Nazis dürfen wir schon gar nicht das letzte Wort überlassen.

Brown Bag Lunch mit Anton Thuswaldner Dienstag, 11. Juli, 12.30 Uhr, Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße 23