Lutz Rathenow führt uns in sein Arbeitszimmer, durch dessen Fenster man auf die Karl-Marx-Allee blicken kann, Richtung Alexanderplatz. Er zeigt auf die Regale und Schränke ringsum, dicht bestückt mit Papieren, Heftern, Versandtaschen. Zeitungen und Zeitschriften sind aufgestapelt, es gibt Ordner und Hängeregistraturen. Das habe sein System, erklärt er, dort Belegexemplare, hier Manuskripte, da Entwürfe, Briefwechsel. Lutz Rathenow ist Schriftsteller, bald wird er 70. Er hat eine Menge von Papier angesammelt, wie sie in der digitalen Gegenwart kaum noch Menschen anhäufen werden.
Rathenow ist zugleich Zeitzeuge der Diktatur. Wissenschaftler, die über die Opposition in der DDR forschen, fänden in seinen Regalen viel Stoff. Eine Weile hatte er sich angewöhnt, seine Tagebuchaufzeichnungen in kleinen Portionen nach West-Berlin zu Jürgen Fuchs zu schicken, denn er musste Hausdurchsuchungen fürchten. Jetzt stecken sie noch in den Briefumschlägen von damals. Fuchs, der Freund, den er aus Jena kannte, der Stadt seiner Jugend, war 1977 ausgebürgert worden. Es war das Jahr, in dem Lutz Rathenow nach Berlin kam, ohne Abschluss. Denn die Jenenser Universität hatte ihn wegen seiner Haltung zu Wolf Biermann exmatrikuliert, auch wegen des Arbeitskreises Literatur und Lyrik, den er gegründet hatte. Immerhin fand seine Frau eine Stelle als Lehrerin in der Hauptstadt der DDR.
Die Stasi-Akten zeigt er zuletzt
Den Schrank, in dem die Kopien aus den Akten liegen, die von der Staatsicherheit über ihn angelegt worden sind, öffnet er zuletzt. „Die habe ich lange zuerst gezeigt“, sagt er, „aber das will ich nicht mehr.“ Rathenow möchte offenbar nicht weiter zuerst politisch, sondern als Literat wahrgenommen werden. Jetzt erscheint sein Buch „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten“. Deshalb sind wir verabredet. Vor dem Besuch schreibt er: „Die fast einjährige Arbeit an dem Band hat sich als eine lebensgewichtende Archivsichtung herausgestellt.“ Als er hörte, dass ein Fotograf mitkommt, sagte er am Telefon: „Dann darf ich bis dahin nicht so viel essen.“
Dass er im Vergleich zu den bekannten Fotos von ihm schlanker geworden ist, fällt auf. Und der Blick in sein Arbeitszimmer illustriert den Satz von der Archivsichtung. Das Buch, grob chronologisch in Kapitel unterteilt, enthält bislang Unveröffentlichtes, aber auch viele in Büchern oder Zeitschriften bereits publizierte Texte. Der Schriftsteller Marko Martin, eine Generation jünger als Rathenow, hat den Band im Kanon Verlag herausgegeben.
Das Plakat zur Buchpremiere am 24. September hängt an seiner Arbeitszimmertür. Marion Brasch wird moderieren, der Fotograf Harald Hauswald, der Regisseur Leander Haußmann und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk werden mit auf der Bühne im Kulturbrauerei-Palais sitzen. Man kann Lutz Rathenow die Vorfreude ansehen, schwungvoll, ja tänzelnd zeigt er auf das Papier.
„Nichts wirkt in dieser Stadt anstößiger als der Anblick eines glücklichen Menschen“, heißt es in einer der Geschichten. Da wird der Erzähler von einem Mann angesprochen, der ihn zu kennen scheint (und sich später als Brecht’sche Figur entpuppt). „Wir stehen vor der Tür zum Hochhaus am Strausberger Platz.“ Rathenow wohnt seit 1992 am Strausberger Platz. Er erzählt, dass er in dem Haus schon Jahre zuvor einmal war. Damals brachte er ein Exemplar der West-Berliner Literaturzeitschrift Litfass zu Franz Fühmann, einem Autor, der für viele, die in der DDR lebten, immense Bedeutung hatte. Und der junge Dichter förderte.
Eine Plakette erinnert an Franz Fühmann
Fühmann seinerseits hatte Rathenow nach dessen zehntägiger Haft im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen besucht, in der Thaerstraße in Friedrichshain wohnte er damals. „Er ist die Treppen hoch gestiefelt, hat geklingelt, plötzlich stand er da und wollte wissen, wie es mir erging und wie es geht. Er hatte diese elementare Neugier und eine große Freundlichkeit, eine absolut beeindruckende Persönlichkeit.“ Lutz Rathenow kann jeden Tag, wenn er in sein Wohnhaus geht, an den 1984 verstorbenen Schriftsteller denken. Eine Plakette neben der Eingangstür erinnert an ihn.

Wir sitzen inzwischen am Küchentisch, die Mittagssonne strahlt durch eine breite Glasfront. Der Gastgeber hat Kaffee gekocht und legt nun einen Stapel Papiere auf den Tisch, einzelne zieht er heraus. Eine Zeitschriftenseite enthält sein erstes außerhalb der DDR veröffentlichtes Gedicht. Ein Freund hatte es in die Schweiz gebracht. „Fernsehantennen/ ragen wie Fischgräten/ verdorbener Mahlzeiten/ in den allabendlichen/ Bequemlichkeitshimmel“, beginnt es, „Lutz Rathenow, 21, Jena/ DDR“ steht darunter. Er sagt, er habe nie viel mit dem Fernsehen zu tun gehabt, das Radio sei ihm stets wichtiger gewesen. Es war sein „Tor in den Westen“. Durch die Nachrichten, die politischen und Literatursendungen, auch als Auftraggeber für Hörspiele und Essays. Dann zeigt er einen Science-Fiction-Sammelband, in dem er mit mehreren Texten vertreten ist. So fing es an.
Zuletzt veröffentlichte er im vergangenen Jahr unter dem Titel „Maskierungszärtlichkeit“ Dresdner Gedichte. Die Stadt war von 2011 bis 2021 sein zweites Zuhause, als er sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur war. Der schmale Gedichtband endet mit fünf Antworten auf einen Fragebogen. Auf „Worüber waren Sie zuletzt zornig?“ antwortet er: „Ich habe mich in Dresden des eigenen Zornes entwöhnt.“ Was an angenehmen Dingen gelegen haben könne. „Sicher hat das aber auch mit Pegida zu tun“, schreibt er weiter, den Demonstranten, denen er öfter montags begegnete. „Sie zeigten mir, wohin es führt, wenn (vorwiegend) Männer, die wie ich nun mal meist weiße ältere Männer sind, aus ihrem Frust eine Wut backen und sich in einen Dauerzorn hineinbeamen. Und ihn durch Geselligkeitssolidarität zu konservieren versuchen.“
Ein Blick zurück ohne Zorn. Warum er keine Memoiren geschrieben habe, sondern fertige Texte biografisch ordne? Er könnte von Lesungen in Kirchen oder Wohnungen in der DDR erzählen, seiner Freundschaft zu Autoren wie Erich Loest. Das Erinnerte steht im neuen Buch zwischen Erdachtem. Vielleicht habe er schon zu viele Biografien angefangen zu lesen, die ihn ein bisschen langweilten, sagt er.
Viele Briefe an Zeitungen
In seiner E-Mail an die Redaktion, mit der er auf den Band hinwies, schrieb Lutz Rathenow: „Nur wer den Roman vermeidet (wie ich) kann eine Art modernen Roman schreiben, rede ich mir beschönigend ein: Literatur neben literarisch-journalistischen Formen – und durch den ganzen Band ca. 10 Texte für Kinder (jeglichen Alters).“ Jetzt sagt er: „Was in die engere Wahl kam, war dreimal so viel.“ Das Buch hat 272 Seiten. Gleichnishafte, zum Teil verspielte Geschichten sind darin, Satiren, auch sein „Gedankentagebuch“ aus der Haft. Als Vorbilder nennt er die „absurde, merkwürdige Prosa“ von Peter Bichsel aus der Schweiz und den Russen Daniil Charms mit seinen Grotesken.
Ein Kinderbuch und ein paar Gedichte und Geschichten nur hat Rathenow in der DDR publizieren können. Sein Sammelband „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“ erschien 1980 bei Ullstein im Westen, was die Verhaftung zur Folge hatte – aber auch öffentlichen Protest. In unregelmäßigen Abständen folgten weitere Bücher. Nach der deutschen Vereinigung erschien ein Erzählband („Sisyphos“) in mehreren Auflagen im Berlin Verlag, anderes brachte er nur bei kleinen Häusern unter. Und weil er dafür den Kontakt zu Redaktionen suchte, Texte und Bücher werbend verschickte, ist er den einen und anderen damit auch auf die Nerven gefallen. Das weiß er, denn er sagt lächelnd: „Man kommt in den Eifer des freien Autors, der sich immer selbst vermarkten muss.“
Sein erfolgreichstes Buch besteht nur zu etwa einem Fünftel aus Text, der etliche Schwarz-Weiß-Fotos von Harald Hauswald einrahmt: „Ost-Berlin“. Es ist ein Essay, der Alltag und Politik zusammenbringt, in dem der Autor durch die Stadtbezirke streift und die Ränder aufsucht, den aufmüpfigen Einzelnen anschaut und die formierten Massen. Zum Beispiel so: „Diese halbe Stadt und doch ein neues Ganzes. Was wäre sie ohne den westlichen Anbau. Diesen Resonanzraum, der unserem Teil zum eigenwilligen Klang verhilft. Der den Ehrgeiz anstachelt, etwas Besonderes zu sein.“ 1987 erstmals im Westen erschienen mit dem Untertitel „Die andere Seite einer Stadt“, 1990 mit aktualisiertem Text neu aufgelegt, mit einem Nachwort von Jürgen Fuchs; 2019 um ein Grußwort von Jan Josef Liefers und einen Essay von Ilko-Sascha Kowalczuk erweitert.
Als er nach Berlin kam, verdingte er sich als Transportarbeiter, Beifahrer oder mit Hilfsjobs am Theater. Die Position als Landesbeauftragter in Dresden war seine erste und einzige Festanstellung, übrigens nicht als Beamter. Finanziell gesehen sei das ungünstiger, aber für ihn sei es in der Gestaltung der Arbeit viel günstiger gewesen. Außerhalb der selbstverständlichen Datenschutz- und Persönlichkeitsschutzregeln habe er keine Begrenzungen gehabt. So konnte er sich Programme ausdenken, Künstler in die Stadt holen, Schriftsteller mit Aufgaben betrauen. Dann sagt er: „Diese Tätigkeit in Dresden war neben vielen anderen eine großartige Chance, distanziert auf sich selbst zu blicken, ohne Veröffentlichungsdruck weiterzuschreiben und zu fragen: Was machst du jetzt eigentlich? Was ist dir eigentlich wichtig?“
Mit Interviews verdient man keinen Pfennig
So neige er dazu, „nicht die immer ökonomisch sinnvollsten Dinge zu machen“. Er gebe viel Geld für die eigenen Bücher aus, um sie verschenken zu können. Und manchmal hätte er sich vielleicht rarmachen sollen. Das habe er bei der Durchsicht seiner Unterlagen gemerkt. 1992, als er seine Stasi-Akten eingesehen hatte, immerhin 15.000 Seiten, gab er etliche Interviews. „Aber wenn man als Experte oder Zeitzeuge befragt wird, bringt einem das noch keinen Pfennig Honorar.“ Also bot er parallel dazu Texte an, war er politisch und literarisch gleichzeitig präsent. Die Zeitung Junge Welt nannte ihn damals „den schlechtesten Schriftsteller des Universums“.
Das haben wir nicht für das Interview aus dem Archiv ausgegraben. Das erzählt Rathenow selbst. „Da dachte ich mir: Jetzt kann ich mir alles erlauben.“ Im Archiv steht zum Beispiel, worauf er nicht hinweist: Dass er 2014 den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland erhielt.



