Zurück in die „Deep Time“

Mattners Fiktionen vom Urknall: Wie der Berliner Künstler mit Licht und Schatten zaubert

Als das Licht ins Dunkel kam: Davon erzählt der Berliner Künstler Jakob Mattner in St. Matthäus am Kulturforum. Eine Ausstellung, die uns mit großen Fragen konfrontiert.

Jakob Mattner: „Transit I“, 2019, ein Blick ins Universum
Jakob Mattner: „Transit I“, 2019, ein Blick ins UniversumVG BIldkunst Bonn 2023/Galerie Michael Haas Berlin/Lea Gryze

Nach dem Trubel, der Kunst-Masse und dem „Bloß nichts verpassen“- Parcours während der zurückliegenden Art Week ist am Kulturforum eine entschleunigende Ausstellung zu erleben: „Deep Time – Der ferne Klang“.

Jakob Mattner, Maler und Bildhauer in Berlin, Anfang der 1970er-Jahre Absolvent der Hochschule für Künste Berlin (heute UdK) bezieht sich aufs Alte Testament, auf die Genesis, und gestaltet damit eine im besten Sinne sakrale Ausstellung in der Avantgarde-zugewandten Kunstkirche. Die hatte einst Schinkels Schüler August Stüler erbaut. Seit vielen Jahren ist der Ort bei namhaften Künstlern, die gerne auch mal in ihren Werken „ketzern“ können, begehrt. Wohl wegen des grandios lichten, schnörkellosen Schiffes, weil da kein historisches Brimborium von der jungen Kunst ablenkt.

Wo, wenn nicht in einer Kirche ist von der Erschaffung der Welt die Rede: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ heißt es im 1. Buch Mose des Alten Testaments. Die Erde war noch wüst und leer. Und dann sprach Gott: „Es werde Licht!“ Anders im Johannes-Evangelium des Neuen Testaments. Da steht, dass am Anfang das Wort war.

„Alpha“, Mattners temporäres Altarbild in der Apsis, gemalt mit Schellack und Kupferstaub
„Alpha“, Mattners temporäres Altarbild in der Apsis, gemalt mit Schellack und KupferstaubVG BIldkunst Bonn 2023/Ali Ghandtschi

Bei Jakob Mattner ist der Anfang seiner Urknall-Fiktion eine bei Nacht fotografierte, mit goldbraunem Schellack übermalte „Daphne“. Die griechische Sagengestalt ist Synonym für Verwandlung: eine Frau, die sich männlichem Begehr und Zugriff entzieht, indem sie sich in ihrer Not vom väterlichen Flussgott in einen Lorbeerstrauch verwandeln lässt. Mattner indes wählte eine Weide, von der es in der Mythologie heißt, der Baum spiegele die Seele, da er Gegensätze verbinde: das Lebendige und die Trauer.

Der vom Konstruktivismus Malewitschs und der Licht-Dynamik des Bauhäuslers Moholy-Nagy ebenso von den simplen Mitteln der Arte Povera inspirierte Jakob Mattner lenkt unseren Blick zurück in jene in der Wissenschaft als „Tiefenzeit“ beschriebene Erdentstehung vor 4,6 Milliarden Jahren. Die ersten Menschen gab es vor etwa 300.000 Jahren auf unserem heute durch das rücksichtslose Handeln des Homo sapiens so gefährdeten blauen Planeten. In der Bibel sind es Adam, Eva und der Sündenfall.

Jakob Mattner mit „Deep Time – Der ferne Klang“: Eine unfassbar ferne Zeit

Mattner nennt seine Arbeiten „Fundamentum Organicum“; er verbindet Pflanzen und Planeten, fossile Abdrücke von Farnen auf in Schellack getränktem Papier. Poetisch und philosophisch ist die Wirkung. Auf einem Bild lässt der 77-jährige Maler fünf Monde aufgehen, und auf einem nächsten setzt er fünf Farne ikonisch ins Bild: die Ur-Pflanzen, die das Licht durch Photosynthese in Leben verwandelten.

Von einem Farnwedel bleibt nur das Gerippe der Erinnerung. Mattner malte diese ursächliche Verbindung von Planet und Pflanzen als Erzählungen aus einer unfassbar fernen Zeit; und würzt diese Geschichte aus Wissenschaft und Religion (für ihn bedeutet Letztere unorthodox die „Anschauung des Universums“  gerade durch die Künste) mit Humor: Das auf der Erde das durch Photosynthese organisches Leben ermöglichende Licht bricht sich in einer kleinen Glasskulptur ins Zwielicht. Mattner nennt das Gebilde „Selbstporträt“.

Jakob Mattner: Farne, die Ur-Pflanzen, und links oben sein gläsernes „Zwielicht“ als humoriges Selbstporträt
Jakob Mattner: Farne, die Ur-Pflanzen, und links oben sein gläsernes „Zwielicht“ als humoriges SelbstporträtVG BIldkunst Bonn 2023/Ali Ghandtsch

Die Ausstellung teilte er im Kirchenraum zu beiden Seiten hin und fordert das Publikum intellektuell: T. S. Eliots „Das wüste Land“ tut sich zur Linken auf, John McPhees philosophisches Konzept der geologischen Zeit „Deep Time“ zur Rechten. Da hängen lauter geheimnisvoll dunkle Landschaften, kosmische Horizonte, dazu gold-braun-schwarze Bilder von Planeten und Gewächsen, die man nur ahnt – schwebend, in den Bildraum stürzend oder sich verschlingend. Das Bild „Transit I“ triggert die Fantasie derart, dass man fast glaubt, den „fernen Klang“ der Genesis zu vernehmen. Mattner verwandelte Lochplatten – die  frühesten Tonträger – auf in Schellack getränktem Japanpapier zu Planeten.

Licht und Schatten sind die „Materialien“ des Berliners. Er schafft „Belichtungen“ einer fernen Zeit, Nachbilder, Archetypen, die ein in der Schwebe, an einem Kipp-Punkt verharrendes Heute, das mit der Industrialisierung begonnene Anthropozän und seine fatalen Verwerfungen meinen. Und hinter dem Altar in der Apsis verschmelzen Licht und Dunkelheit zum „Altarbild“, gemalt mit Schellack und Kupferstaub. Als Fiktion des Urknalls. Als Blick ins Universum bei Licht je nach Tageszeit. Alpha und Omega, Anfang und Ende, berühren sich.

Jakob Mattner: Deep Time – Der ferne Klang. St. Matthäus, am Kulturforum, Di–So 11–18 Uhr, Eintritt frei. Führungen/Gespräche über: info@stiftung-stmatthaeus.de. Bis 4.2.2024