„Die Bergemann“. In der Fotografie-Szene klang das so, als würden Filmfans „Die Dietrich“ sagen. Sibylle Bergemann, geboren 1941 in Berlin, gestorben 2010 in ihrem Brandenburgischen Refugium Margaretenhof, gilt als Fotografinnen-Legende. Als sie das, Jahre vor ihrem frühen Tod, hörte und halb erschrocken, halb amüsiert reagierte, kam dieser lakonische Spruch: „Ist doch nichts Besonderes. Die haben‘s nur einfach nicht gemerkt!“ Wer sie war und wie sie fotografierte – das ist jetzt in der Berlinischen Galerie in einer unvergesslichen Ausstellung zu erleben.
Der Bergemann-Stil ist unverwechselbar. Nie fehlt es darin an Respekt vor Menschen und deren Lebensumständen. Ob das im nachkriegsgrauen Berlin, im Moskau der Achtzigerjahre war oder später in den Straßen von New York, Paris, Rio, Hanoi und Dakar. Ihre von Fernweh und Empathie fürs Fremde inspirierten Aufnahmen sind ab 1990 in Magazinen wie Geo, Spiegel, Stern sowie im New-York-Times-Magazin zu sehen. Die Fotoredaktionen schätzen diese Art von effektlos-schönen Bildern einer Künstlerin, die nicht revoltiert hat, aber auch nicht still in ihrer DDR-Nische saß. Sie hat ihre Fotokunst ästhetisch ins Eigensinnigste gedehnt.
Diese wortkarge Fotografin, die von 1966 an bei ihrem späteren Mann, dem DDR-Foto-Star Arno Fischer in die Lehre ging, gehörte wie dieser, ebenso wie der Künstlerfreund Roger Melis und die bildstarken, immer nach dem Wesentlichen suchenden Fotografinnen Helga Paris oder Evelyn Richter zu den Meisterhaften, den Unverwechselbaren ihrer Zunft im deutschen Osten. Und dann, nach 1990, sicherte sie sich unangepasst an Trends und Konkurrenzdruck ihre fotografische Autonomie im wiedervereinten Land.

Da ist dieses junge Mädchen auf der Schaukel im Mauerpark, aus der Berlin-Serie zur Wendezeit. Furchtlos schwingt sie sich in den Himmel. Die Aufnahme der Szene verrät, woher Bergemann ihr Gefühl für den einzigartigen Moment hat. Cartier-Bressons „Mitten im Sprung erstarrt die Zeit…“ spricht daraus. Aber auch die Leidenschaft, aus der Magnum-Maxime etwas sehr Eigenes zu machen. Etwas, das sich herauswagt aus dem Kanon der Vorbilder, aus dem, was bloß nachgeahmt werden kann. Die Bergemann lässt das wehende Haar der Kindfrau da oben in der Berliner Luft fliegen wie Fühler, die sich kühn in alle Welt ausstrecken, sich zu nehmen gewillt sind, was es da gibt.
Bergemann fotografierte mit Geduld, unaufgeregt und achtsam
Wer mit ihr unterwegs war auf Reportage – Journalisten, oft auch Schriftsteller – kann beschreiben, wie sie arbeitete: Sie fotografierte mit unendlicher Geduld, unaufgeregt, achtsam. „Das verwechseln dann manche mit Langsamkeit“, meinte sie und beschrieb ihre Arbeit so: „Ich gehe los. Ich beobachte. Ich bin still. Ich warte und warte. Und dann, in einem jähen Moment, baue ich das Motiv.“

Meist fand sie es recht zutreffend, eine poetische Realistin genannt zu werden. „Mich interessiert der Rand der Welt, nicht die Mitte. Das Nichtaustauschbare ist für mich von Belang.“ Bergemanns Bilder zeigen mehr als bloß Oberfläche. Immer geht es um Persönlichkeit statt um Pose. Ihre Porträtkunst macht ein Gesicht, sei es das von Arbeiterinnen, alten Leuten, das von Schauspielerinnen wie Eva-Maria Hagen, Angelica Domröse, Katharina Thalbach oder Meret Becker, zur Biografie zwischen Kinn und Stirn. Zumindest ahnungsvoll, wenn es ein junges ist. Und es ist meist das Beiläufige, Nebensächliche, das in ihren Bildern zum Wesentlichen führt.
Aus ihren Bildern spricht eine Sehnsucht nach dem Landleben
„Stadt Land Hund“, die etwas kuriose thematische Reihenfolge dieser von Katia Reich kuratierten Retrospektive ist exemplarisch für die Bergemann. Sie fotografierte als „Stadtfrau“. Und sie erfüllte sich, was viele Bilder erzählen, diese romantische Sehnsucht nach dem Landleben. In den Siebzigern waren das etliche Jahre auf dem malerisch maroden Schloss Hoppenrade. Natürlich mit Hund. Und danach, bis zu ihrem letzten Atemzug, auf dem Margaretenhof bei Gransee, in einem Neubauernhaus mit brütender Wildgans, mit einer alten Kuh, die Arno Fischer vor dem gewalttätigen Bauern gerettet hatte. Und selbstredend mit Hunden.

Aber sie hatte immer auch noch eine kleine Wohnung in Berlin. So winzig wie die erste ihrer symbiotischen Beziehung mit Arno Fischer, in der Hannoverschen Straße 2. Sie macht davon gleichsam Boheme-Motive. Die Küche auch als Fotolabor, Tochter Frieda, die ihre Schularbeiten macht. Auf dem Fensterbrett werden Vögel gefüttert. Und trotz der Enge kommen die Freunde aus der Szene, um über Kunst, Gott und die Welt zu reden.
Mit anderen Kreativen gründete Bergemann die Ostkreuzschule
Zum „weiten Feld“ wird ab 1976 die Wohnung Schiffbauerdamm 12. Das sind 160 Quadratmeter, Ofenheizung, Ausstellungswände, alte Sofas und Sessel, in denen die namhaften Fotografenfreunde aus dem Osten sitzen. Und es kommen über den nahen Grenzpunkt Friedrichstraße Fotolegenden aus dem Westen wie Cartier-Bresson, Ellen Auerbach, Robert Frank, der in Paris lebende Tscheche Josef Koudelka. Nach dem Fall der Mauer gründen Fischer und Bergemann hier die Fotoschule am Schiffbauerdamm. Doch 2004 müssen sie raus: Gentrifizierung. Margaretenhof wird Fluchtort.

Zugleich beginnt das Kapitel Fotoagentur Ostkreuz, Gründung 1990. Die Bergemann ist maßgebliches Gründungsmitglied, zusammen mit Ute und Werner Mahler, Harald Hauswald, Jens Rötzsch, Thomas Sandberg, Harf Zimmermann. Das nach dem genossenschaftlichen Vorbild der Fotoagentur Magnum ausgerichtete Bündnis erweist sich als Erfolgsprojekt. Sommer 2010. Ostkreuz feiert den „20.“, die Bergemann kommt. Still, mager, zerbrechlich, doch mit wachem Blick. Alle umschwärmen sie. Ringsum an den Wänden des C/O Berlin hängen ihre Fotos. Die alten, die neueren. Sie bleibt nur kurz. Der Krebs, dem sie sich seit Jahren zäh widersetzt, verzehrt ihre Kräfte.
Bilder aus Nah und Fern sind ausgebreitet wie Poesie
Unterwegs, im eigenen Land oder in fremden Gegenden der Welt gerieten Bergemanns Motive immer verhalten, ganz dem Gegenstand zugewandt. „Ich fand Orte, die ihre eigenen Geschichten von Veränderungen, Verwandlungen erzählen“, sagte sie. Diese Erzählungen sind in der Berlinischen Galerie ausgebreitet als reine Poesie. Als „verblassende Erinnerung“: Melancholisch schön, doch unsentimental – eine rostige Eisenbahnbrücke, selbst der ruinierte Palast der Republik.
Nur wer diese Nichtorte kennt, wird sich an sie erinnern. Wer die Zeit, die sie zitieren, nicht erlebt hat, wird sie mühelos anderswo verorten. Es sind diskrete Mitteilungen vom Wandel. Niemand konnte wie Sibylle Bergemann eine zweite, eine dritte Ebene in die schwarz-weißen oder dann immer öfter farbigen Bilder hineinweben, so als wäre die Kamera ein Webstuhl, dessen Schiffchen eilends, aber akribisch Seidenfäden hin- und herwirft und dann akkurat zu einem Stoff verarbeitet.




