Auf den ersten Blick weckt die Wohnung alles andere als Begeisterung. Ihr Grundriss lässt vermuten: Hier geht es beengt zu. Ein Wohnraum mit Essbereich, ein Schlaf- und ein Kinderzimmer, dazu Küche, Bad und Flur – summa summarum knapp 55 Quadratmeter. Auf den zweiten Blick aber wirkt diese Wohnung einladend, nicht nur weil sie einen Balkon hat. Sie dürfte mit ein bisschen Geschick ein schönes Zuhause sein. Und auf den dritten, den historischen Blick ist festzuhalten, dass diese Drei-Zimmer-Wohnung eines fünfgeschossigen Plattenbaus des Typs P2 aus dem Jahr 1966 für Zigtausende DDR-Bürger eine Traumwohnung war.

Das neue B HISTORY mit dem Titel „Zu Hause in Berlin“, aus der dieser Artikel stammt, bietet akribisch recherchierte, opulent illustrierte und mitreißend erzählte Berliner Wohngeschichte(n).
Das Geschichtsmagazin der Berliner Zeitung – 124 Seiten mit 277 Abbildungen – gibt es im Einzelhandel für 9,90 Euro, im Leserservice unter der Telefonnummer +49 30 2327-77 und unter der E-Mail-Adresse leserservice@berlinerverlag.com zuzüglich Versandkosten sowie im Aboshop.
Die Geschichte des Plattenbaus (eigentlich: Großtafelbaus), also des Baus von Gebäuden, die aus industriell vorgefertigten, geschosshohen und wandbreiten Platten sowie entsprechenden Deckenplatten aus Beton montiert sind, begann in Deutschland 1925: Ein ganzer Stadtteil bildete sich in Frankfurt am Main – das Neue Frankfurt. Berlin folgte ein Jahr später: Unter dem Motto „Licht, Luft und Sonne für alle!“ entstanden bis 1930 in Friedrichsfelde 138 Wohnungen mit Balkon oder Loggia sowie Gärten vor und hinter den Häusern. Der Ort heißt seit 1951 Splanemann-Siedlung, benannt nach dem Widerstandskämpfer Herbert Splanemann.
In jenen 50er-Jahren stellte sich die junge DDR ihrer größten sozialpolitischen Herausforderung: dem Wohnungsbau. Anfänglich lautete das Motto der Initiative, „national, schön und großzügig“ zu bauen, anschließend bloß noch „besser, billiger und schneller“. In Berlin-Johannisthal wurde im Jahr 1953 ein Versuchs-Plattenbau hochgezogen; im sächsischen Hoyerswerda 1957 der Grundstein für eine ganze Stadt in Großtafelbauweise gelegt.
Die Architektur des P2 sparte Platz und Kosten
Ost-Berlin wurde ab Anfang der 1960er-Jahre zum Schauplatz des industriellen Bauens. Ein Architektenkollektiv der Deutschen Bauakademie errichtete 1961/62 im Lichtenberger Ortsteil Fennpfuhl den „Experimentalbau P2/5“. P2 steht für „parallel 2“: Die tragenden Wände sind parallel zur Fassade angeordnet, es gibt zwei Aufgänge im Haus. Der P2 als Typenserie wurde bis 1990 in mehreren Varianten erstellt: fünfgeschossig als Standard, aber auch mit sechs, sieben, zehn oder elf Geschossen.
Die Wohnungen sind um ein innen liegendes Treppenhaus angeordnet; je zwei liegen in einem Geschoss, entweder zwei mit drei Zimmern (ursprünglich rund 55 Quadratmeter) oder eine mit zwei und eine mit vier Zimmern (rund 46 und 63 Quadratmeter).
Am P2 ist vieles besonders. Küche (Einbaumöbel, Doppelbeckenspüle, Gasherd und Stellfläche für einen Kühlschrank) und Bad (Toilette, Waschbecken und Badewanne, Anschluss für eine Waschmaschine) liegen innen und nebeneinander. Damit nutzen sie einen gemeinsamen Versorgungsschacht für Wasser, Abwasser und Entlüftung, was Platz und Kosten spart.
Die Küche, im Ur-P2 noch nicht mal fünf Quadratmeter groß, ist über eine Durchreiche mit dem Wohnraum, der 19 Quadratmeter misst, verbunden. Dahinter stand die Idee, dass sich das Familienleben nicht länger am Herd abspielen und der Mann sich am Haushalt beteiligen soll. Der Wunsch nach einer Trennung beider Räume führte später zum Einbau von Betonwänden mit einem Fenster. In den letzten gebauten P2-Wohnungen sind Küche und Wohnraum komplett getrennt.

Der P2-Versuchsbau an der Lichtenberger Erich-Kuttner-Straße 9, 11, 13 und 15 – er steht heute unter Denkmalschutz – präsentierte auch 16 verschieden ausgestattete Wohnungen. Mit einem Möbelsystem in Modulform konnte jeder Mieter variabel wohnen. Unabhängig davon schufen P2-Bewohner ihr ganz persönliches Zuhause.
Das veranschaulicht die 2010 verstorbene Fotografin Sibylle Bergemann mit ihrer „Serie P2 (Berlin-Lichtenberg, Wohnzimmer eines Häuserblocks)“. In den Jahren 1974 bis 1981 machte die spätere Mitbegründerin der Berliner Fotografenagentur Ostkreuz in mehreren Wohnungen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, wobei sie stets den Teil des Wohnraums abbildete, der zwischen der Fensterfront und der Durchreiche zur Küche liegt.
Es fällt auf, dass in allen Wohnräumen die Gardinen bis zum Boden reichen. Ansonsten geht es mal bunt und mal schlicht, mal rustikal und mal modern zu. Es gibt knallige Tapeten mit abstrakten Blumenmustern oder weiße Wände; Esstische mit beblümten Tischdecken, davor hölzerne Stühle; geschlossene oder offene Sideboards; Regalbrett oder Schrank; einen Vogelkäfig an der Wand oder Schmuckteller als Wanddekoration.
Die Wohnung war eigentlich ein staatliches Geschenk.
In der DDR war das Wohnen günstig. Die Miete lag zwischen 80 Pfennigen und 1,25 Mark pro Quadratmeter Wohnfläche. In nicht wenigen Plattenbauten waren – im Gegensatz zu Altbauwohnungen – die Kosten für Heizung, Kalt- und Warmwasser im Mietpreis inbegriffen. „Die Wohnung war eigentlich ein staatliches Geschenk“, sagte der Architekt und Architekturkritiker Bruno Flierl 2017 in einem Interview mit der Tageszeitung Junge Welt. So konnte sich der Wohnungsbau nicht rentieren.
Wohnungen in der DDR wurden zugeteilt oder getauscht. Die besten Chancen auf eine „Wohnraumzuweisung“ durch die Kommunale Wohnungsverwaltung hatten Familien und Schichtarbeiter. Auch Beziehungen waren von Nutzen. Viele behandelten die Miet- wie eine Eigentumswohnung: Sie investierten Geld und Zeit, um Wände zu tapezieren, Küche und Bad zu fliesen, Fußböden auszulegen und die Haustechnik zu warten.

Den ursprünglich für die Essecke vorgesehen Bereich des Wohnraums machten viele Mieter zur Sofaecke. Das zeigen die Bilder von Sibylle Bergemann. In einer Wohnung stehen ein Dreisitzer-Sofa, daneben eine Stehlampe und zwei Drehsessel, zwischen den Sitzmöbeln, deren Bezug mit Längsstreifen gemustert ist, befindet sich ein Tisch. Eine andere Einrichtung besteht aus einer ledernen Eckcouch, einem alten Vitrinenschrank und einer alten Pendeluhr an der Wand sowie einem Fernsehgerät vor dem Fenster – die Möbel stehen auf einem dunkel gemusterten Teppich.
Der Wohnungsbedarf in der DDR sollte bis 1990 gedeckt sein. So sah es das Wohnungsbauprogramm vor, das das Zentralkomitee der SED bei seiner 10. Tagung im Oktober 1973 beschloss. Bis zu drei Millionen Wohnungen sollten gebaut oder modernisiert werden. Nach „Jedem eine Wohnung“ galt die Parole „Jedem seine Wohnung“, ob im P2 oder in anderen Plattenbautypen.
Ende der 70er-Jahre musste das kostspielige Programm angepasst werden. Die sogenannten Sonderbauten in den Siedlungen entfielen – Kindergärten und Schulen sowie Spielplätze, Kaufhallen und Wohngebietsgaststätten sowie Schwimmhallen.
So entstand die Zwei-Raum-Wohnung
Auch die Bauausführung in den Plattenbauten sei vereinfacht worden, berichtet der Journalist Helmut Lück 2020 in einem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung: Wasseranschlüsse aus Gummi, Überputzkabel aus Aluminium, Türen ohne Rahmen. Laut Lück ergab sich aus dem Sparen die Zwei-Raum-Wohnung: „Die Raumaufteilung wurde geändert, indem einfach größere Zimmer mit einer Platte halbiert wurden. Damit aber nicht so auffiel, wie klein die Wohnungen waren, die man den Leuten zuteilen konnte, musste das Vokabular angepasst werden. Denn man konnte eine Anderthalb-Zimmer-Wohnung schlecht Zwei-Zimmer-Wohnung nennen, wenn die Stuben nur 18 und 11 Quadratmeter groß waren. Aber Zwei-Raum-Wohnung – das ging!“
Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker übergab im Oktober 1988 in der Erich-Correns-Straße 22 (heute: Vincent-van-Gogh-Straße) in Hohenschönhausen die offiziell dreimillionste Wohnung des DDR-Wohnungsbauprogramms. Unbestreitbar ist die Leistung der ostdeutschen Bauwirtschaft, wenngleich bis 1990 nicht drei, sondern knapp zwei Millionen Wohnungen in Plattenbauweise entstanden und in jenem Jahr 42 Prozent sanierungsbedürftig waren.
Allein im Osten Berlins gibt es 250.000 Wohnungen in Plattenbauweise. Wem es dort doch zu eng ist, sei es in einem P2 oder in einem anderen Plattenbautyp, der kann gegebenenfalls die eine oder andere Wand entfernen lassen. Das ist ein großartiger Vorteil von Bauten ohne tragende Zwischenwände.
