Selbstredend hat sich’s festgetreten wie ein Kaugummi an der Schuhsohle: Der berühmteste Galerist des Ostens war mal Nacktmodell. Wegen seiner Vorgeschichte. Der gelernte Leipziger Maschinenbauer Gerd Harry Lybke hatte seine NVA-Zeit wegen einer selbstgeschriebenen Losung „Macht Liebe, nicht Krieg“ zur Strafe in der Kasernenbibliothek zugebracht und es danach ausgeschlagen, sich „sozialistisch zu bewähren“. Er sollte in der Sowjetunion Kraftwerksenergie studieren, das Praktikum im Atomkraftwerk Tschernobyl absolvieren. Lybke wollte nicht – und bekam Studien- und Arbeitsverbot. Heute kommentiert er die Kriminalisierung so: „Also ist man in seinem kleinen Pupsleben auf einmal mit der großen Geschichte verwoben.“
Er wurde nicht Friedhofsgärtner wie andere Geächtete, sondern „freischaffendes“ Aktmodell. „Judy“, wie ihn seine Freunde schon immer nennen, zog es zur Kunst. Er stand frierend im schlecht geheizten Zeichensaal des Abendkurses der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Um ihn herum an ihren Blöcken junge Autodidakten, die für die vormundschaftliche Staatsmacht als Subversive galten. Die durften damals nicht studieren, wollten es auch gar nicht. Darunter auch die heute berühmten Brüder Olaf und Carsten Nicolai sowie Jörg Herold. Am 10. April 1983 gründeten die Freunde in Judys Altbaubude Körnerstraße 8 ihre eigene Galerie namens Eigen+Art.
Mit der Stasi Räuber und Gendarm spielen
Zu sehen war Kunst, die in keine offizielle Ausstellung gelangte. Das Publikum stand Schlange im Treppenhaus bis hoch zur Wohnungsgalerie unterm schrägen Dach. Natürlich hatte die Stasi diese autonome Szene im Auge, traute sich aber nicht hoch, „weil ich ja auch da als Nacktmodell oder im Bademantel performte. Das war wie Räuber und Gendarm spielen“, so Lybke. „Und das Galerie-Kollektiv, alles Loser in den Augen der Funktionäre, hat sich geschickt, nie aktionistisch verhalten.“

Die Behörden duldeten das Projekt. Es wurde da auch keine Kunst verkauft, das durfte in der DDR nur der staatliche Kunsthandel. Aber die Eigen+Art-Leute verbandelten sich mit etablierten Leipziger Künstlern, mieteten bald eine kleine Fabriketage der ausgezogenen Firma Rohrer & Klingner in der Fritz-Austel-Straße. Ihre erste Schau hieß „Die Neuen Unkonkreten“. Alles war von Anfang an professionell organisiert: reguläre Öffnungszeiten, der Siebdrucker Hartmut Tauer gestaltete Einladungen, Plakate, Kataloge. Namhafte Künstler aus Leipzig und Dresden stellten aus. Bald gab es ein gefragtes Dia- und Video-Archiv.
Dr. Oetker war ihr Bürge
Dann kam die Wendezeit und mit ihr die „Wir sind das Volk“-Rufe. Leipzig war im Revolutionsfieber, die Kunstszene auf der Straße. Die Mauer fiel, und Lybke & Freunde zog es in die Welt. Eigen+Art fuhr 1990 zur Messe nach Frankfurt am Main. Mit Ostgeld. Und dann nach Basel, mit einem W50-LKW inklusive Schlafmatten, Kochstelle, Vorräte. „Ohne Westmark. Aber Arend Oetker, damals Chef des Dr.-Oetker-Konzerns, hat für unseren Messestand gebürgt“, erzählt der Galerist. Damals bot er ausgerechnet Bilder der Schweizerin Annelies Štrba an, „doch die Eidgenossen hielten die Künstlerin für eine Ostdeutsche, guckten nur, kauften nicht“.
„Doch wir wurden mutiger“, so Lybke. „Ende 1990 machten wir temporär eine Galerie-Station in Tokio, im Jahr darauf in Paris.“ Und 1992 begann das Abenteuer Berlin in der grauen, nachts nicht mal beleuchteten Auguststraße. Schräg gegenüber die alte Margarinefabrik, aus der Klaus Biesenbach später das Institut Kunstwerke (KW Institute for Contemporary Art) machte. Es waren Eigen+Art-Künstler, die dort als Erste an den noch ranzig nach Margarine riechenden Wänden ausstellten.
Erst kam die Erfahrung, dann das Geld
Und dann kam es 1993 zu einem temporären Gastspiel in New York, mitten in der Rezession, in einem gespenstisch leeren Haus. Da gab es nur noch nebenan die Galerie von der Kunsthändlerlegende Leo Castelli. Dieses paradoxe Krisenerlebnis brachte zwar kein Geld ein, aber Welterfahrung. 1994 folgte noch ein kurzer Eigen+Art-Auftritt in London. Fortan war die Galerie aus Leipzig und Ost-Berlin auf den wichtigen Messen der Welt vertreten. 2005 bespielte sie den israelischen, 2015 den deutschen und 2019 den mongolischen Pavillon auf der Venedig-Biennale. Lybkes Künstler, heute an die 40, waren an der Documenta, an Biennalen in Venedig, Berlin, Istanbul, Gwangju, dem Art Festival Sapporo oder der Yokohama-Triennale beteiligt.
1993 kam auch Neo Rauch zur Galerie, nach der Jahrtausendwende der Malerstar der „New Leipzig School“. Und nach und nach wurde Lybke der Galerist auch all der anderen Namhaften dieser aus dem Osten wie dem Westen stammenden Szene: Uwe Kowski, David Schnell, Tim Eitel, Martin Eder, Titus Schade, Kai Schiemenz, Christine Hill, Ricarda Roggan, Kristina Schuldt, Birgit Brenner, Stella Hamberg, Ulrike Theusner und die Ukrainerin Lada Nakonechna – um nur einige zu nennen.
Zauberwort Kollektiv
Sie alle sagen über Judy Lybke das Gleiche: Er skaliert nicht, treibt nicht an. Es geht ihm nicht um rasanten Output. Er ist geduldiger Partner, Freund. Er lässt uns die Zeit, die es braucht für die Kunst. Heute ist der Name Eigen+Art eine Marke an drei Standorten mit 25 Leuten im Team: seit 2005 in der einstigen Baumwollspinnerei Leipzig, seit den 90ern in der Berliner Auguststraße und ab 2012 als Eigen+Art Lab in der Torstraße. Als Spielwiese und Entdeckerort für Kunst, die zum Galerieprofil von Malerei, Skulptur, Zeichnung, Konzeptkunst passt.



