Ein rätselhaftes Stillleben befindet sich seit Tagen in der Pfarrkirche St. Matthias nahe dem an Markttagen so quirligen Schöneberger Winterfeldtplatz. Im neugotischen Schiff der katholischen Kirche ist ein Bild aufgestellt, das eine, wenn man so will, provokante Altarfunktion erfüllt, gerade im Hinblick auf die Osterliturgie, also auf das Ende der Leidenszeit und die Auferstehung Christi, damit den Sieg des Lebens über den Tod. Denn dieses große Gemälde verbildlicht auch den Zweifel.
Eine private Stiftung ermöglichte die Dauerleihgabe, gemalt von Michael Triegel. Der 1968 in Erfurt Geborene zählt zu den namhaftesten Malern der Neuen Leipziger Schule. Er gilt zudem als ausgesprochen philosophischer Gegenwartskünstler. Studiert hat er in den 1990er-Jahren bei Arno Rink an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Schon damals verschrieb er sich nicht der Bildsprache der Romantik wie seine Kommilitonen, so etwa Neo Rauch, sondern ganz der Renaissance. Triegel fand zu einer eigenwilligen und dennoch deutlichen Verwandtschaft zur Stilistik des 2004 verstorbenen Leipziger Malers Werner Tübke, bekannt für seinen manieristischen und magischen Realismus, ganz besonders im monumentalen Bauernkriegspanorama im thüringischen Bad Frankenhausen.
Der Maler lädt zum Glaubenstest
Klar, farbenprächtig, zugleich auch metaphorisch verrätselt sind die Motive Triegels. Körper, Heiligenbilder und Gegenstände lädt er auf mit biblischen und auch weltlichen Bedeutungen, changierend zwischen Mittelalter und heutiger Zeit. Die im Perspektivprinzip des Goldenen Schnitts komponierten Gemälde erinnern an die sakrale Malerei des 16. Jahrhunderts, an die alten Italiener der Hochrenaissance, auch an Dürer oder Cranach.
Triegels ausladendes Gemälde „Deus absconditus“ (Verborgener Gott) ist gewissermaßen angelegt als Glaubenstest, denn verstörte Menschen fragen, wo eigentlich Gott ist in dieser gewalttätigen Gegenwart, angesichts der Kriegsverbrechen Putins im Bruderland Ukraine. Zuerst fällt der Blick auf das Zentrum der Leinwand, auf das große Leinentuch, das mit Seilen überm Kruzifix gespannt ist. Es verhüllt den ans Kreuz geschlagenen Christus nahezu vollständig, lediglich Hände und Füße mit den Wundmalen sind sichtbar. Letztere sind zusätzlich bedeckt mit der lateinisch beschrifteten Zeichnung eines umgekehrten Trapezes.
Auf dem hölzernen Tisch und in den Kästen befinden sich merkwürdige Dinge. Eine alte Schreibmaschine, eine Büßerfigur kniend vor einem Apfel (der Erkenntnis). Die blutigen Schafsköpfe symbolisieren Opfer, Tod und Leid. Links wendet sich eine weibliche Gestalt in prächtiger Kleidung, doch ohne Gesicht und Hände, ab vom Geschehen. Wir erahnen in ihr Maria. Utensilien, die auf den christlichen Glauben verweisen, verraten Irritation, ja, Gebrochenheit. In der im Kasten beiseitegestellten Jesusfigur wird das fast greifbar.
Interessant ist die Korrespondenz zwischen dem – geradezu industriell anmutenden – minimalistischen Streifendesign der Stirnwand des Raumes und dem meisterhandwerklich verlegten geometrischen Fußbodenornament. Das scheinbar Altmeisterliche ist ein malerischer Zeitreisetrick. Bei vertiefter Betrachtung wirkt dieses Szenario fast veristisch modern. Ohne Grenzen zwischen Bild und Körper, Natur- und Kunstform, zwischen Innen und Außen. Der Leipziger Maler, aufgewachsen in einer atheistischen Umgebung, hat das Bild vor seiner eigenen Erwachsenentaufe gemalt.
Warten bis zur Auferstehung
Triegel bezeichnet das denkwürdige Motiv als „Riesenstillleben“ und spricht von einer „Rumpelkammer der Geschichte“, einer toten Bühne der Kunst vor der Dunkelheit eines „ewigen Nichts“. Wie immer erzählt er auch hier keine einfache Geschichte. Er hat keine Standard-Ikonografie. Denn: „Ich beziehe mich in meiner Kunst auf heute vielfach vergessene Traditionen des alten Europa, die für mich noch immer lebendig und jung sind.“ Die Betrachter sollten also eher an dem zweifeln, was sie sehen und wissen, als daran, was sie fühlen und glauben.
Die Szene spielt auf die Aschermittwoch-Verhüllung in der katholischen Liturgie der Fastenzeit an, 40 Tage lang. Bis Karsamstagnacht, bis zur österlichen Auferstehung des Gottessohnes. Zeitgleich stehen Gläubige wie Ungläubige vor einem magischen Rätselbild, das Vergessenes anschaulich macht in einer merkwürdig hyperreal-magischen, eigentlich surrealen Bild-in-Bild-Komposition. Da gibt es Brüche, Synkretismen und Symbole, die mit anderen als den klassisch biblischen Bedeutungen besetzt sind. Typisch Triegel eben. Dessen „Denkbilder“ wollen das Auge befriedigen, aber auch zum Nach- und Mitdenken auffordern: ohne zu missionieren.
