Was lange währt, wird endlich gut, sagt das Sprichwort. Und behält recht. Zwei Jahre lang war es angekündigt, nun ist es so weit – im großen Werkraum im Sockelgeschoss des Mies-van-der-Rohe-Baus an der Potsdamer Straße sind die kostbaren Dauerleihgaben der Kunststiftung Gerhard Richter ausgebreitet. Der eher wortkarge und gern lakonische Maler wurde bei der Unterzeichnung des Vertrages ungewohnt pathetisch und meinte: „Nachdem ich mit der Stiftung einen Lebenstraum realisieren konnte, ist es eine beglückende Auszeichnung, dass diese Werke in Berlin ihre Heimat finden.“

Gedacht ist das weltweit beneidete Konvolut für das künftige, der Neuen Nationalgalerie benachbarte Museum des 20. Jahrhunderts. Die Baugrube am Kulturforum ist versteckt hinter soliden Bretterverschlägen. Kräne, schwere Technik, LKWs sind im Einsatz. Die Eröffnung, für 2026 geplant, wird sich wohl verspäten. Die Corona-Pandemie und die Baumaterialknappheit, erschwert durch den Ukrainekrieg, nehmen keine Rücksicht auf Kunst-Utopien. Und so dient der große Werkraum in der Neuen Nationalgalerie als würdiges Zwischendomizil.
Erfolgreich ausgehandelt hat den Dauerleihgaben-Deal mit Richter und dessen Stiftung noch Udo Kittelmann, der vormalige, im Herbst 2020 nach eigener Entscheidung ausgeschiedene Direktor der Neuen Nationalgalerie. Für den jetzigen und den künftigen Richter-Saal ist auch eine Kooperation für den Austausch mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und dem dortigen Richter-Archiv beschlossene Sache.

Diesmal fertigte der Jahr für Jahr zum bedeutendsten lebenden Maler der Welt gekürte Gerhard Richter keine Skizzen für die Hängung an. Der Perfektionist hat auch nicht den Ausstellungsaufbau inspiziert. Er habe, betont er, alles seiner Stiftung überlassen und in tiefem Vertrauen den Museumleuten. Er möchte diesen Raum so erleben wie ein ganz normaler Besucher. Als Maler mit einem über 60-jährigen Lebenswerk ist er wohl darauf gefasst genug, im Extrakt seines Schaffens sich selber zu begegnen.
Reise durch das Universum Richter
Die Kuratoren Maike Maike Steinkamp und Joachim Jäger haben den in fünf thematisch unterteilten Saal mit guten Händchen ausgestattet, so dass wir, von keiner Zeit und keinem Tempo getrieben, gewissermaßen durch das Universum des Malers Richter reisen. Und auch wenn die großen und kleinen Tafeln mit den Datierungen der Bilder zwar Jahrzehnte zurückreichen, aber 2019 enden, als Richter – wie von den Medien aufgeregt berichtet – das aktive Malen einstellte, weil er zu dem Schluss gelangte, dass er nur noch zeichnen möchte, gibt es keinen Anfang und kein Ende.Denn in der Kunst dieses 91-jährigen, aus Dresden stammenden, kurz vorm Mauerbau aus der DDR in den Westen abgehauenen Wahlkölners hängt alles mit allem zusammen: wandelbar zurück und nach vorn, seitwärts, in die Tiefe und die Höhe – sogar bis zur Paradoxie.
Dieses Universum führt als Zeichensystem hin zum intellektuellen Kern von Richters Arbeit: expressive Abstraktionen, emotionale Rhythmen wie ineinander quellende Farbwolkenhaufen, daneben leuchtende Geometrien, horizontal-minimalistische Farbstreifen, monochrome, meditative Tafeln in Grau. In letzteren erleben wir, wie sehr doch im Grau alle Farben dieser Welt stecken, die der Freude, der Lust, aber auch der aschigen Trauer. Und da sind die übermalten Fotos aus dem Familienalbum zur NS-Zeit , die der NS-Euthanasie zum Opfer gefallene „Tante Marianne“, der Nazi-„Onkel Rudi“ in Landseruniform, und auch Motive aus dem „Deutschen Herbst“, so ein „Besetztes Haus.“
Alles sind Bilder der typischen, von Epigonen auf der ganzen Welt bis zum Exzess nachgeahmten Richterschen Unschärfe. Dies ist eine Ästhetik, mit welcher der Maler die fernere und die nähere deutsche Geschichte, die Realität und zugleich auch den Wahrheitsgehalt der Fotografie befragte. Selbst wenn man sich alltäglich mit Kunst befasst, wird einem abermals klar: Jeder Versuch, das System Richter simpel zu erklären, muss einfach scheitern.

Nein, das Œuvre dieses öffentlichkeitsscheuen Malers strebt, trotz der vom internationalen Kunstmarkt diktierten astronomischen Preise (diese Woche erst wurde das Gemälde „Grün-Rot-Blau 789-33“ aus dem Jahr 1993 bei einer Sotheby’s-Auktion in Köln für 533.400 Euro versteigert), nicht nach vergoldeten Bilderrahmen. Richter betont es seit Jahren wieder und wieder: Er will keine Elogen, sondern intensive Kommunikation – mit dem oft verstörenden politischen Weltgeschehen, mit der Kunstgeschichte sowie einer von Zweifeln und Experimenten getriebenen Befragung der eigenen Arbeit. Dieser Bildermacher wollte nie abgehobene „Ikonen“ schaffen. Er sucht den geistigen Austausch mit uns – den Betrachtenden.
„Birkenau“ – die Serie ist das Fazit der Auseinandersetzung Richters mit dem Holocaust
Der bezwingendste Teil dieser „100 Werke für Berlin“ ist der aus vier großen Tafeln bestehende Zyklus „Birkenau“ aus dem Jahr 2014. Die Serie ist das Fazit der langen Auseinandersetzung des Malers mit dem Holocaust und dessen Darstellbarkeit. Basis waren vier Fotos aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, die Richter auf die vier Leinwände übertrug, um sie dann nach und nach zu übermalen. Es sind abstrakte Landschaften zum Zivilisationsbruch. Aber aus der schwarzgrauen Asche der Vernichtung drängte es blutrot, für das wieder auferstehende Leben. Und lebendiges Grün sprießt aus den aufgerissenen Bildgründen. Mit jeder Farbschicht ließ der Maler die fotografischen Vorlagen – auch sie hängen links und rechts des Zyklus – ein bisschen mehr verschwinden. Bis sie schließlich nicht mehr sichtbar waren.

