Ein Österreicher reist in ein kleines Dorf in Transsilvanien und beutet dort vorpubertierende Jungs aus. So inszenierte es Ulrich Seidl 2019 für seinen Film „Sparta“ vor der Kamera. Dass es dahinter womöglich ähnlich zuging, legten Recherchen des Spiegel im vergangenen Sommer nahe.
Zahlreiche Mitarbeiter des österreichischen Regisseurs hatten den Journalisten von Missständen am Set berichtet: Minderjährige sollen ohne angemessene Betreuung Alkohol, Gewalt und Nacktheit ausgesetzt gewesen sein. Die Laiendarsteller sowie ihre Familien habe man zudem nicht darüber aufgeklärt, dass es in dem Film um Pädophilie ging.
Ulrich Seidl wehrte sich anschließend in Interviews gegen einen Großteil der Vorwürfe. Dass er den Begriff „Pädophilie“ nicht verwendete, wenn es um seine Geschichte ging, gab er nach den Anschuldigungen gegenüber der Süddeutschen Zeitung allerdings zu. „Aus ganz bestimmten Gründen: Weil man dann sofort glauben würde, es würden pädophile oder sexualisierte Szenen gedreht“, so der Regisseur. Dem österreichischen Nachrichtenmagazin Profil sagte er: „Es ist kein Film über Pädophilie. Es geht um Armut, Gewalt und Ausbeutung.“
Ewald sucht die Nähe von Jungen
Nun, da der Film in die Kinos kommt, können sich die Zuschauer selbst ein Bild machen. Sie sehen: Ein Mann namens Ewald (Georg Friedrich) hat in Rumänien einen Job und eine Freundin (Florentina Elena Pop). Sie will heiraten und ihn allabendlich verführen. Er zeigt an beidem kein Interesse. Seine Lebensgeister erwachen lediglich im Kontakt mit vorpubertierenden Jungs. Ewald spaziert über Spielplätze, wo er sich neben Teenagern auf die Schaukel setzt, regt zu Raufereien an, etwa mit den Neffen seiner Freundin im Wohnzimmer oder mit Fremden bei einer Schneeballschlacht in der Stadt. Anschließend weint er im Auto.
Irgendwann flieht Ewald aus der Beziehung und stößt eher durch Zufall auf eine verlassene Dorfschule. Er beschließt, das Gebäude auf Vordermann zu bringen und dort Judo-Unterricht anzubieten. Seine Schüler, Jungs zwischen zehn und 17 Jahren, sucht er sich aus dem näheren Umkreis in der strukturschwachen Gegend aus. Oberkörperfrei fotografiert er die Kinder, geht nach dem Training mit ihnen duschen, er nackt, sie in Unterhose. Wenn es dunkel wird und er allein in der Schule zurückbleibt, wirft er die Bilder mit einem Beamer an die Wand und raucht genüsslich, während er ranzoomt, auf die Augen eines Jungen, seine Brust, seinen Schritt.
Schon bald fixiert Ewald sich auf einen Jungen: den zarten Octavian (Octavian-Nicolae Cocis), der von seinem dauertrinkenden Vater wahrscheinlich geschlagen wird. Immer wieder lotst er den Jungen in Situationen, in denen die beiden allein sind, ständig streichelt er seinen Kopf, den Nacken, die Arme.
Das alles sehen die Zuschauer. Sie könnten zusätzlich denken: Hier ist ein Westeuropäer, der sich im Osten Dinge leisten und erlauben kann, die im Westen utopisch oder tabu wären. Und dessen Vater ein Altnazi ist, dem bei einschlägigem Liedgut noch immer die Tränen in die Augen steigen. Doch mit Verweis auf eine Metaebene zu behaupten, hier gehe es eigentlich gar nicht um Pädophilie, ist zynisch.
Auch andere Vorwürfe gegen Seidl wiegen schwer: In einer Szene wird Octavian-Nicolae Cocis von dem Mann, der seinen Vater spielt, hart angefasst und zum Alkoholtrinken überredet. Der Regisseur soll gewusst haben, dass der Junge nur Monate vorher mit seiner Mutter vor dem trinkenden und gewalttätigen Vater geflohen sein soll – und auf deutliche körperliche Alarmsignale des Kindes trotzdem nicht reagiert haben. Einen bewussten Vorsatz kann man Seidl nicht nachweisen. Doch seine Stellungnahme im Profil-Magazin zu dieser Szene lässt mindestens auf bemerkenswerte Ignoranz in Bezug auf die Arbeit mit Kindern schließen: „Der Bub hat in dieser Szene selbst entschieden, wie er sich verhalten wollte“, sagt der Regisseur, bezogen auf einen zehnjährigen Laiendarsteller aus armen Verhältnissen, der seine Sprache nicht spricht.
Der Regisseur bereut nur eins
Inwiefern ein Regisseur generell für den emotionalen und psychischen Zustand seiner Schauspieler verantwortlich ist – ob er sich zum Beispiel verpflichtet fühlen sollte, den Ablauf von Szenen und deren Funktion im Film vorher genau mit ihnen durchzusprechen –, kann man sicher debattieren. Dass bei Kindern andere Regeln gelten müssen als bei Erwachsenen, sollte allerdings klar sein.
„Sparta“ ist nun von der Berichterstattung über seine Entstehungsgeschichte nicht mehr zu trennen und wird von dieser auf so intensive wie verstörende Art voyeuristisch befruchtet. Wie in so vielen seiner Filme weiß Ulrich Seidl auch hier aufzuwühlen – zu verunsichern –, indem er die Zuschauer ohne eine moralische Hoheit animiert, ihren Blick auf Widersprüche und Abgründe in Systemen, anderen Menschen und auch sich selbst zu richten.
Ein moralisches Urteil Außenstehender verbittet Seidl sich offensichtlich nach wie vor, auch in Bezug auf seine Arbeitsweise. Er hätte nichts anders gemacht, erklärte er vergangenen Oktober auf der Bühne, als „Sparta“ beim Filmfest Hamburg seine Deutschlandpremiere feierte. In seinem Profil-Interview bedauerte der Regisseur zumindest, den Kontakt zu den Familien nicht gehalten zu haben, die, bis die Journalisten vom Spiegel anklopften, im Glauben gewesen sein sollen, der Film sei nie fertig geworden. Nach dem Eklat reiste Seidl nach Rumänien und zeigte ihn, laut dem Regisseur warfen die Beteiligten ihm dort anschließend nichts mehr vor.


