Über eine Woche lang haben sich die Veranstalter des Toronto International Filmfestival (TIFF) für ihre Entscheidung Zeit gelassen, doch nun steht fest: Die geplante Premiere von Ulrich Seidls Film „Sparta“, die für den 9. Spetember geplant war, wird nicht stattfinden. „Das TIFF wird ‚Sparta‘ unter der Regie von Ulrich Seidl nicht länger zeigen“, teilte das Filmfestival in einer kurzen Stellungnahme mit: „Alle öffentlichen und die professionellen Screenings wurden gestrichen.“
Es ist die richtige Entscheidung. Ulrich Seidl lotet in seinen Filmen Grenzen aus. Ästhetische, das ist unbestreitbar, vielleicht auch moralische, das ist Ansichtssache. Er zeigt Hässliches, Trauriges, Abgründiges – Dinge, die die meisten Menschen nicht sehen wollen, gerade deshalb tut er es. Er erreicht sein Ziel, indem er seinen Schauspielern und den Protagonisten seiner Dokumentarfilme viel abverlangt. Ob zu viel, das werden manche von ihnen erst wissen, wenn der Film fertig ist. Als erwachsene Menschen sind sie für dieses Risiko selbst verantwortlich.
In der vergangenen Woche veröffentlichte der Spiegel eine ausführliche Recherche zu den Produktionsbedingungen von Seidls Film „Sparta“, den er 2019 in Rumänien drehte. In der zweiten Hälfte seines filmischen Diptychons – die erste, „Rimini“, lief in diesem Jahr auf der Berlinale – wird die Geschichte eines pädophilen Österreichers erzählt, der in der rumänischen Provinz Kampfsportschulen für Jugendliche eröffnen will.
Die Darsteller sollen nicht gewusst haben, dass es im Film um Pädophilie geht
Seidl, der häufig mit Laiendarstellern arbeitet, hat dafür Jungen aus den umliegenden Dörfern des Drehorts Satu Mare nahe der ungarischen Grenze im Norden des Landes gecastet.
Viele Menschen dort leben in großer Armut, häufig arbeitet mindestens ein Elternteil im Ausland. In diesen Familien sollte eine ehemalige Assistentin Seidls für das Projekt werben, wie sie im Gespräch mit der Berliner Zeitung erzählt. Die Frau möchte anonym bleiben, ihre Identität ist der Zeitung bekannt. Ulrich Seidl hielt den Inhalt seines Projekts zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend unter Verschluss, auch die Assistentin hatte kein Drehbuch zu lesen bekommen. Die Fragen der rumänischen Familien, worum es in dem Film denn gehen würde, welche Rollen die Kinder und Jugendlichen spielen sollten, konnte sie nicht beantworten. Als die Auskünfte des Regisseurs auch nach mehrmaligen Nachfragen vage blieben, weigerte sie sich, so weiterzuarbeiten. „Ulrich Seidl sagte dann zu mir, er wolle bei seiner Arbeit Menschen an ihre Grenzen bringen. Und wenn ich Berührungsängste hätte, sei ich wohl nicht richtig für das Projekt.“ Sie kündigte.
Die Spiegel-Recherchen legen nahe, dass der Regisseur bei dem Projekt fortan tatsächlich wieder Menschen an ihre Grenzen brachte, diesmal allerdings auch Minderjährige. Dass er sie und ihre Familien über den Zweck im Unklaren ließ und die jungen Darsteller „ohne ausreichende Vorbereitung und angemessene Betreuung mit Alkoholismus, Gewalt und Nacktheit konfrontierte“.
Ulrich Seidl selbst hat sämtliche Vorwürfe in einer Stellungnahme zurückgewiesen. Darin schreibt er unter anderem: „Immer schon versuche ich in meiner Arbeit, das Widersprüchliche in unserem Handeln und Denken als Essenz des Menschseins zu ergründen. Mir ist bewusst, dass meine künstlerische Weltsicht, und wie ich sie in meinen Filmen ausdrücke, nicht zuletzt in krassem Gegensatz steht zu einem gegenwärtigen Zeitgeist, der ein verkürztes, vielfach kontextloses ‚Entweder - Oder‘ verlangt, wo ein ‚Sowohl - Als auch‘ die menschliche Erfahrung deutlich besser beschreibt. In allen meinen Filmen, in meinem gesamten künstlerischen Werk verlange ich nach Empathie für die Angeschlagenen und Abgestürzten, für die Abgedrängten und Geächteten: Ich stelle sie nicht an den (moralischen) Pranger, sondern fordere dazu auf, sie als komplexe und auch widersprüchliche Menschen wahrzunehmen.“ Der Regisseur schreibt weiter, er habe die Kinder zu nichts gedrängt und ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufgebaut. Hätten sich Darsteller oder Eltern nicht wohl gefühlt, wären sie doch sicher nicht über den Drehzeitraum von mehreren Monaten dabeigeblieben, gibt er zu bedenken.
Den zentralen Punkt, dass die Dreharbeiten für viele der Familien eine große wirtschaftliche Bedeutung gehabt haben dürften und so aus dem vermeintlichen Vertrauensverhältnis auch ein Abhängigkeitsverhältnis wurde, lässt er dabei außen vor.
Das Festival in San Sebastián will „Sparta“ zeigen
Nach Informationen des Spiegel wurde den mitwirkenden Familien bisher kein Filmmaterial gezeigt, eine rumänische Mutter behauptete gegenüber den Journalisten sogar, man habe auf Nachfrage behauptet, das Material sei zu schlecht geworden, um es zu nutzen.
Dass das Publikum in Toronto ihnen nicht zuvorkommen wird, ist ein Zeichen des Respekts. Das Filmfestival von San Sebastián, Spanien, will den Film dagegen weiterhin in der kommenden Woche im Wettbewerb zeigen: Ohne gerichtliche Anordnung werde man „Sparta“ nicht aus dem Programm nehmen, heißt es im Statement vom 5. September.
Sollte die Festivalleitung an dieser Entscheidung festhalten, wäre das ein düsteres Signal für die Rechte von Kindern und Jugendlichen. Ob sich Seidl und die Produktion tatsächlich strafbar gemacht haben, ist zwar noch unklar. Die rumänischen Behörden haben mittlerweile Ermittlungen aufgenommen, der Fall wird national groß in den Medien besprochen. Würde nun, vor dem Ergebnis dieser Ermittlungen, der Film öffentlich gezeigt, bei dessen Herstellung womöglich Minderjährigen geschadet wurde oder der im Nachhinein ihr Schamgefühl verletzt, wäre der Schaden für die Betroffenen bereits entstanden.
Doch selbst wenn Ulrich Seidl juristisch entlastet würde: Er wäre gut damit beraten, die Angelegenheit mit seinen Darstellern und ihren Familien zu klären – auch wenn das bedeuten könnte, den Film vielleicht freiwillig niemals zu veröffentlichen.
