Jedes Jahr im Frühling bietet Achtung Berlin einen Einblick in das aktuelle Filmgeschehen in, aus und um Berlin. Neben den Dokumentar- und Spielfilm-Hauptprogrammen mit jeweils elf Beiträgen sind zahlreiche kurze und mittellange Filme im Rennen. Fünf Jurys entscheiden über die Vergabe von zwölf Geld- und Sachpreisen in einer Gesamthöhe von fast 30.000 Euro. Zahlreiche Sonderveranstaltungen, Panels, Workshops und natürlich Partys runden das Angebot ab. Die diesjährige Retrospektive widmet sich filmischen Dokumenten aus der letzten DDR-Dekade, die sich mit der zunehmenden Umweltverschmutzung und dem Aufbegehren dagegen beschäftigen.
Wer sein Bild vom gegenwärtigen Film-Berlin auffrischen mag, ist bei diesem Festival bestens aufgehoben. Eröffnet wird mit einem Ausflug in die Karibik. „Vamos a la playa“ erzählt von einem jugendlichen Trio, das auf Kuba ganz unterschiedlichen Ambitionen nachgeht. Das Wohlstandsgefälle gegenüber den Einheimischen zieht immer aufs Neue seine Grenzen, wirft die Reisenden auf ihre Realitäten zurück. Der Film bietet sonnendurchflutete Schauplätze mit relativ seichten Fallhöhen – genau das richtige also für einen Auftakt im bis eben allzu kalten und dunklen Berlin.
Ansonsten überwiegen bei den Spielfilmen skeptische Stimmen; sie sind so vielfältig wie die Metropole selbst. Mehrere Beiträge kreisen um Identitätsverlust und Entropie. Kein Ort, nirgends. Der urbane Raum ist garstig, bietet längst keine Heimat mehr. Frauen und Männer pendeln zwischen abweisenden Parallelwelten, die letzten Fluchtwege führen nach Innen, schließen sich dort kurz und führen zur Implosion.
Ein Traum-Universum gegen die Tristesse
In Anton von Heiselers Plattenbau-Drama „153 Meter“ entwickelt die Hausmeisterin Lana eine voyeuristische – naturbedingt einseitige – Beziehung zu einer jungen Frau im Nachbarblock. Mit dem Wunsch zur Überwindung der Distanz kommt die Katastrophe ins Rollen. Der junge Mehrfach-Agent Samir in „Monolith“ von Julius Schultheiß löst sich, angefeuert von Drogen und Schlaflosigkeit, im Wechselspiel seiner Rollen allmählich auf. Oder „Franky Five Star“ von Birgit Möller: Um der Tristesse ihrer Lebenswelt zu entkommen, entwirft eine junge Getränkemarkt-Hilfskraft gleich ein ganzes Traum-Universum. Nur hier, in diesem von bizarrem Personal bevölkerten Fünf-Sterne-Hotel, kann sie singen, tanzen und lieben, kann sie vor allem den nervenden Nachstellungen ihrer Mutter entkommen. In Janin Halischs „Sprich mit mir“ geht es ebenfalls um eine kontaminierte Mutter-Tochter-Beziehung. Auch durch einen spontanen Ausflug an die Ostsee kann diese Konstellation nicht mehr ins Gleichgewicht gebracht werden.
Neben diesen suchenden, teils auch irrlichternden Beispielen gibt es mindestens drei herausragende Spielfilme. Auch sie ziehen doppelte Böden ein, weisen aber weit über bloße Bestandsaufnahmen allgemeiner Geworfenheit hinaus. Dies geschieht primär durch die Form, aber auch durch die Ambivalenz der Figurenzeichnung.
Jonas Ludwig Walters Titelheldin „Tamara“ kehrt nach langen Jahren irgendwo im Ausland heim in den Mief der ostdeutschen Provinz. Es scheint, als gerate durch die Rückkehr der etwas spröden Schönen eine eben noch mühsam aufrechterhaltene Balance vollends aus dem Gleichgewicht. Tamara ist kein Racheengel, ihre bloße Anwesenheit und die von ihr ausgehende Grandezza bringen die Kulissen des Selbstmitleids zum Einstürzen. Der Film ist detailgenau bis hin zu den vergilbten Buchrücken von Tschingis Aitmatow und Christa Wolf, driftet aber nie ins Pittoreske ab, bleibt stets empathisch. Der Kosmos blickt mitleidig auf die Ex-DDR hinab, Uschi Brüning singt auf der Gartenparty vom „schwarzen Raum zwischen den Sternen“, und Andreas Schmidt-Schaller sitzt als Opa Erwin im Rollstuhl.
Der für unseren Autor wirkungsvollste Film ist „Stumm vor Schreck“
Die in Tel Aviv geborene, in Berlin lebende Künstlerin Ann Oren hat für ihren auf analogem Super-16-Material gedrehten „Piaffe“ schon einige Vorschusslorbeeren erhalten – völlig zu Recht! Wir haben es hier mit einem traumwandlerischen Pferdemädchen-Film der besonderen Art zu tun. Seine Bilder heben die Grenzen von Körperlichkeit und Imagination auf. Oren setzt der ausgestellten Schlauheit eines selbstreflexiven Thesenkinos die pure Imagination entgegen, knüpft damit nahtlos an die großen Zauberer von Georges Méliès über Maya Deren bis Jan Švankmajer an.
Der für mich wirkungsvollste, weil gleichsam einfachste wie komplexeste fiktionale Film des Festivals ist „Stumm vor Schreck“ von Daniel Popat. Denn er beweist, dass es ohne technisches oder intellektuelles Brimborium weiterhin möglich bleibt, pure Geschichten mit sich unmittelbar entladenden Energien zu kreieren. Das zeigt sich schon daran, dass die nüchterne Nacherzählung des Plots wenig Sinn ergibt. Ja, was erleben wir hier eigentlich?
Ein Paar zieht sich in ein einsames Waldhaus zurück, um endlich wieder zueinanderzufinden. Was natürlich schiefgehen muss. Ausgehend von dieser banalen Konstellation setzt sich ein Karussell von Denkansätzen in Gang, das durch die kammerspielartige Situation gleichsam eingehegt wie forciert wird. Die Intensität der Performance ist über große Strecken Annette Frier und Peter Trabner in den Hauptrollen zu verdanken. Ihre unberechenbare Improvisationslust erhält gegen Ende des Films neue Schübe. Eine dritte Person tritt auf, die Schraube dreht sich weiter ...



