Ausstellung

Heimliche Aufnahmen des Holocaust zum ersten Mal in Berlin

„Flashes of Memory“ im Museum für Fotografie zeigt Fotos des Holocaust. Bilder, die die Mörder machten, die Befreier, aber auch Juden selbst. Unter Lebensgefahr.

Aryeh Ben-Menachem, Mendel Grossman fotografiert heimlich die Deportation von Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto Litzmannstadt (Lodz) o.J.
Aryeh Ben-Menachem, Mendel Grossman fotografiert heimlich die Deportation von Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto Litzmannstadt (Lodz) o.J.Yad Vashem Archives

„Soll ich Ihnen zeigen, wie ich meine Fotos gemacht habe?“, fragt Henryk Ross. Er schlägt den Mantel auf, entblößt die Kamera, drückt auf den Auslöser, schlägt den Mantel wieder zu. So ist es in einem Filmausschnitt zu sehen. Ross, polnischer Jude, war Pressefotograf, bevor er 1940 im Ghetto Lodz, damals Litzmannstadt, eingesperrt wurde. Genau wie Mendel Grossmann arbeitete er dort für den Judenrat. Mit ihren Fotos wollte der Rat die effiziente Führung des Ghettos und seinen ökonomischen Nutzen belegen. Sie hofften, das Ghetto auf diese Weise möglichst lange vor der Liquidierung zu bewahren. Es war den beiden Fotografen verboten, abseits ihres Auftrags Bilder zu machen. „Ich wusste, sie hätten mich gefoltert und getötet, wenn sie mich erwischt hätten“, sagt Henryk Ross. Doch Ross und Grossmann hielten sich nicht an das Verbot. Mendel Grossmann fotografierte sogar Hinrichtungen, wie die Ausstellung „Flashes of Memory. Fotografie im Holocaust“ belegt, die derzeit im Museum für Fotografie zu sehen ist.

Mendel Grossman, Kinder auf einer Straße im Ghetto Litzmannstadt (Lodz), o.J.
Mendel Grossman, Kinder auf einer Straße im Ghetto Litzmannstadt (Lodz), o.J.Yad Vashem Archives

Auch die Angst, das Klicken seines Auslösers könne ihn verraten, hielt Grossmann nicht davon ab. Die Nachwelt sollte sehen können. Nicht nur das Leiden, sondern auch, wie sich die Menschen ihre Würde bewahrten. Mendel Grossmann fotografierte seine Schwester und den Neffen über einen Teller Suppe gebeugt, Kinder beim Spielen, selbstbewusst wirkende Mitglieder von Jugendgruppen im Ghetto. Als das Ghetto aufgelöst wurde, versteckte er Tausende von Negativen an verschiedenen Orten. Grossmann starb bei einem Todesmarsch nicht weit von Berlin.

Fotografen wie Grossmann und Ross gab es in vielen Ghettos, und es ist eine befriedigende Erkenntnis, dass die visuelle Erinnerung an den Holocaust sich nicht nur auf die viel zahlreicheren Aufnahmen der Täter stützt. Viele dieser heimlich gemachten Fotos des Holocaust sind nun erstmals in Deutschland zu sehen, die Ausstellung ist eine Kooperation der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem mit der Kunstbibliothek und dem Freundeskreis Yad Vashem. Anfang 2018 wurde sie in Israel eröffnet.

Zu sehen sind nicht nur Fotos, die Juden machten, sondern auch die von Deutschen, von Sowjets, Briten und Amerikanern. Fotos der Opfer, der Täter und der Befreier. Und alle hatten unterschiedliche Motive. Die Deutschen machten Propagandafotos, die die Bevölkerung manipulieren und mobilisieren sollten. Im Illustrierten Beobachter etwa erschien eine Fotogeschichte unter der Überschrift „Juden lernen gemeinnützig arbeiten“; zu sehen sind Menschen in einem Kuhstall, einer Schreinerei, einer Schneiderwerkstatt. Antisemitische Privatfotos schickten Deutsche an den Stürmer, wie die Ausstellung zeigt. Aufnahmen von „faulen“ Juden, von Juden, die entlaust werden.

Diese Bilder haben das kollektive Gedächtnis des Holocaust geprägt

Die jüdischen Fotografen wollten ihr eigenes Schicksal dokumentieren. Die Alliierten konnten mit den Aufnahmen ihre moralische Überlegenheit zeigen, den USA dienten sie dazu, die Mobilmachung und die vielen toten Soldaten im Nachhinein vor den Amerikanern zu rechtfertigen. Die Fotos waren Beweismaterial für die bevorstehenden Kriegsverbrecherprozesse, sie dienten der Umerziehung der deutschen Bevölkerung.  Etwa der mithilfe von Billy Wilder entstandene Film „Death Mills“, aus dem hier Ausschnitte zu sehen sind.

Und mit ihren Aufnahmen der Auschwitz-Befreiung, die sie eine Woche später nachstellten, hofften die Sowjets die sich verschlechternden Beziehungen zu den westlichen Verbündeten zu verbessern. Sie steckten die Befreiten noch einmal in die gestreifte Häftlingskleidung, ließen sie zwischen den Stacheldrahtzäunen marschieren. Was heute am wichtigsten ist: Diese Bilder haben das kollektive Gedächtnis des Holocaust geprägt.

Der Eingangstext im Museum weist auf die mächtige Manipulationskraft der Kamera hin. Fotografie sei eine Interpretation der Realität, nicht die Realität selbst. Doch die Ausstellung scheint das Gegenteil zu belegen, indem sie lehrt, dass Propaganda ein schwer zu greifender Begriff ist. Das machen die zahllosen Fotos deutlich, die auf vier Lichttischen im Zentrum des Ausstellungsraums liegen. Sie sind nicht kontextualisiert, und bei vielen lässt sich schwer sagen, wer das Bild gemacht hat und warum.

Der Fotograf Mendel Grossmann in seiner Dunkelkammer im Ghetto Litzmannstadt (Lodz), o.J.
Der Fotograf Mendel Grossmann in seiner Dunkelkammer im Ghetto Litzmannstadt (Lodz), o.J.Yad Vashem Archives

Am schwersten einzuordnen sind vielleicht die Fotos von Deutschen, die im Ghetto arbeiteten oder es besuchten und die ohne Auftrag zur Kamera griffen. Der SS-Mann Heinz Jost hat im Warschauer Ghetto einen toten oder sterbenden Jungen fotografiert, er liegt auf der Straße, neben ihm sitzt ein Mädchen, das die Hand nach ihm ausstreckt. Die Aufnahme eines anonymen deutschen Soldaten zeigt eine Mutter mit ihren vier zerlumpten, halb verhungerten Kindern, die vor einer Hauswand sitzen. Das sind keine Propagandafotos von „faulen“ Juden, es sind schwer zu ertragende Bilder, die zeigen, wie grausam die Nazis handelten. Warum sie diese Fotos machten, wie diese Fotografen die Realität interpretierten – das bleibt ein Rätsel. Aber diese Bilder legen Zeugnis ab, sie erzählen eine Geschichte, die die Fotografen vielleicht gar nicht erzählen wollten.

Flashes of Memory. Museum für Fotografie, Jebensstr.2, bis 20. August 2023. Di–So 11–19 Uhr, Do bis 20 Uhr. Es gibt ein umfangreiches Bildungs- und Vermittlungsprogramm zur Ausstellung und einen Katalog, der im Buchladen des Museums für Fotografie erhältlich ist.