Das Eldorado muss ein Wahnsinnsladen gewesen sein. Ein Ort frei ausgelebter Queerness, irgendwie zwischen Berghain und SchwuZ, aber vor 100 Jahren: 1924 wurde es eröffnet, als es weder Madonna noch Techno gab, dafür aber den Charleston. Wenn man heute teure Avocados kauft im Bioladen an der Ecke Motz-/Kalckreuthstraße, wo das Eldorado bis 1933 residierte, spürt man nichts mehr vom Zauber, der einst hier knisterte. Es sei denn, man hat über das Eldorado bei Erika und Klaus Mann gelesen, oder bei Christopher Isherwood. Oder es auf Otto-Dix-Gemälden gesehen.
Nach der ARD-Serie „Eldorado KaDeWe“ von 2021 steigt nun ein Netflix-Dokumentarfilm im eigentlichen Eldorado ab, pünktlich zum 28. Juni, dem Jahrestag der Stonewall Riots 1969 in der Christopher Street in New York. Das darf sicher auch als Hinweis darauf gesehen werden, dass die Geschichte queerer Emanzipation viel älter ist als Stonewall. Das legendäre Berliner Nachtleben der 1920er (um das es auch in der aktuellen Ausgabe unseres jungen Geschichtsmagazins B History geht) zählte um die 120 queere Orte. Bereits 1919 gab es in Berlin das ausgesprochen queerfreundliche „Institut für Sexualwissenschaft“ von Magnus Hirschfeld.
Auch Hirschfeld zählte zu den Gästen, die im Eldorado dem vida loca frönten. Wir begegnen ihm in einigen der in goldenes Licht getauchten Reenactment-Szenen aus dem Netflix-Film; so wie auch allerlei Frauen und Männern, ob nun trans oder cis, in jedem Fall bestens gelaunt und im Eldorado genau richtig, wo das vielsagende, die Diversity feiernde Motto „Hier ist's richtig“ an der Eckfassade prangte. Doch auch der mehr oder weniger heimlich schwule SA-Chef Ernst Röhm verkehrte im Eldorado.
Queere Freiheit: Netflix feiert „Alles, was die Nazis hassen“
Die Netflix-Doku entspinnt in ihren Spielfilmszenen keinen auserzählten Plot. Vielmehr nimmt sie den Ort, dessen ausgelassene Atmosphäre schön erfahrbar wird, als Mikrokosmos queeren Lebens – und als Aufhänger für ein sehr viel weiter angelegtes Narrativ. Es geht der Dokumentation offensichtlich darum zu zeigen, wie fragil die neu gewonnenen Freiheiten queerer Menschen in den deutschen 1920ern tatsächlich waren. Denn mit der Machtergreifung der Nazis ändert sich alles: Das Hirschfeld-Institut wird vernichtet. Das Eldorado muss schließen. Hitler wendet sich von einem seiner engsten Weggefährten, dem schwulen Ernst Röhm ab und lässt dessen brutale Hinrichtung durch die SS zu.
Die Netflix-Doku erzählt – mit teils neu entdecktem Archivmaterial und O-Tönen von Zeitzeugen und Geschichtsforschenden – auch von ergreifenden Einzelschicksalen. Etwa vom jüdischen Komponisten Walter Arlen (*1920), dessen Jugendliebe „Lumpi“, auch ein Jude, der in einem Nazi-Arbeitslager den Hungertod starb; und vom deutschen Tennis-Star Gottfried von Cramm (1909–1976), der einen galizischen Juden liebte. Die Nazis hofierten von Cramm erst, verurteilten ihn dann aber nach dem Homosexuellen-Paragraphen 175. Ein Paragraph, der auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht abgeschafft, sondern in der BRD erst 1994 vollends beerdigt wurde.


