Wenn Charlies Blutdruck steigt und das Herz muckt, liest man ihm am besten aus einem Schüleraufsatz vor. Der Text handelt von Herman Melvilles „Moby Dick“, die ungefähr 13-jährige Autorin mag den Roman über Captain Ahabs Jagd auf den weißen Wal, sie findet ihn traurig. Am traurigsten findet sie die langweiligen Kapitel, in denen Melville das Leben der Wale beschreibt. Sie hat das Gefühl, er wolle damit die Leser vor seiner eigenen traurigen Geschichte schützen. Das ist in der Tat ein tiefschürfender Gedanke, der einem das Wesen von Literatur und Kunst überhaupt aufschließen kann.
Umso mehr könnte man sich zu Beginn des Kammerspielfilms „The Whale“ fragen, wovor uns der Regisseur Darren Aronofsky schützen will. Er stößt uns doch mitten hinein in den Abgrund der Traurigkeit, ein trostloseres Bild ist kaum vorstellbar: Charlie sitzt halb versunken in den Polstern seiner Couch und, wenn das geht, in seinem eigenen adipösen Körper.
Auf dem Laptop flimmert ein Gay-Porno, Charlie macht sich irgendwo in den Katakomben seines Fettes zu schaffen, die Nachttischlampe wackelt im Rhythmus. Schweiß tropft, die Lunge rasselt, die Augen drehen sich weg. Es ist kein Orgasmus, sondern eine Herzattacke, die Charlie schließlich aufstöhnen, zucken und nach dem Telefon greifen lässt. Es rutscht ihm aus der Hand und stürzt in die unerreichbare Ferne des Fußbodens. Er stirbt nicht, der Film fängt ja gerade erst an.
Aronofsky und sein Team haben viel Liebe in den Fatsuit und die prothetische Maske gesteckt, die trotz ihrer Ausmaße durchlässig sind für Brendan Frasers Seelenspiel. Man hat viele Gelegenheiten, sich das lebensechte Kunstwerk anzusehen: ein hängender, bebender Berg mit zerklüfteten Landschaften, unregelmäßig gefurcht und pigmentiert, mit Haar bewaldet, durchpulst von Angst und Leid.
Es hat während der 40 Drehtage jeweils vier Stunden gedauert, Fraser mit diesem künstlichen Körper zu verschmelzen. Ein Teil der Oscar-Ehre für die Schauspielleistung gebührt auf jeden Fall auch den Maskenbildnern, die mit dem naturgetreuen Kunstkoloss Brendan Fraser dazu zwangen, sich zu bewegen, wie man sich eben bewegt, wenn man ein paar Hundert Kilogramm zu viel auf dem Skelett hat: das Schwungholen und die Stirnadern sprengende Anstrengung beim Aufstehen, die Suche nach dem Gleichgewicht, die Panik vor jedem Schritt, die Ökonomie der Verrichtungen, das Geschick im Umgang mit Greifarmen und den viel zu klein wirkenden Gerätschaften.
Der Naturalismus des Films, der auf das gleichnamige Theaterstück von Samuel D. Hunter zurückgeht, fordert dem Publikum die Überwindung von ästhetischen Konventionen ab, bevor es zur Identifikation schreiten kann. Erst einmal muss einiges geschluckt werden: Hähnchenteile mit triefender Panade aus dem Pappeimer, Schokoriegel aus der Großpackung, mit Mayonnaise nachgefettete Pizza aus dem Karton. Das Wissen, dass es sich um einen künstlichen Körperaufbau handelt, erlaubt es dem Zuschauer, seinem voyeuristischen Interesse nachzugehen, das er einem echt mehrgewichtigen Schauspieler mit größeren Bedenken angedeihen lassen würde. Das wirft noch einmal ein anderes Licht auf die Diskussion, ob Fatsuits politisch korrekt und künstlerisch geboten sind.
Unerreichbare Eingeweide
Charlie verdient sein Geld als Englischlehrer, der seine Kurse nur noch online und bei ausgeschalteter Kamera anbietet. Seine Seele hat einiges zu verarbeiten: Er trennte sich von seiner Frau, als seine Tochter acht Jahre alt war. Er hatte sich in Alan, einen seiner Studenten verliebt und mit ihm gelebt, bis Alan sich von einer Brücke stürzte. Danach verlor Charlie vollends die Kontrolle über sein Essverhalten. Alans Schwester, die Pflegerin Liz, gespielt von Hong Chau, kümmert sich nun um ihn, der eigentlich in ein Krankenhaus müsste. Als sie ihm androht, ihn mit einem Messer zu zwingen, lacht er und weist sie darauf hin, dass seine Eingeweide einen halben Meter tief in seinem Körper verborgen und für die Klinge unerreichbar sind.
Der Panzer, den sich Charlie anfrisst, ist trotz seiner konkreten und massigen Dingfestigkeit als Metapher zu verstehen, als eine Barriere zwischen Menschen, die einander in Schuld und Liebe verbunden sind. Liz hat in Charlie jemanden gefunden, mit dem sie um ihren Bruder trauern kann. Der junge, autodidaktische Missionar Thomas (Ty Simpkins) perlt mit seinem religiösen Trost ab.
Charlie weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat, und nimmt noch einmal Kontakt zu seiner Tochter Ellie (Sadie Sink) auf, die sich in aller Zierlichkeit mit ihren 17 Jahren in einem Panzer aus Abwehr und Widerstand verkrochen hat. Charlie ist ihren aggressiven Energien wehrlos ausgeliefert und kassiert sie mit väterlicher Milde und der Hoffnung ein, seine Schuld zu begleichen. Lauter tapfere, empathische Seelen, die in ihrer Einsamkeit um jeden Millimeter Nähe kämpfen.




