Es nervt! Medien und Abgeordnete lassen sich über das Körpergewicht der Grünen-Politikerin Ricarda Lang aus, anstatt ihre Redebeiträge zu debattieren. Die Ärzte nehmen ihren fetten- und frauenfeindlichen Song „Elke“ von der Setlist und ernten einen Shitstorm. Nach wie vor sieht man auf deutschen Bühnen und erst recht im deutschen Fernsehen kaum unschlanke Menschen in Hauptrollen, und auch sonst genießen Leute mit sogenanntem Idealgewicht Privilegien und Karrierevorteile. Dabei sollte doch klar sein, dass auch wegen seines Körpergewichts niemand diskriminiert werden darf. Wir sprachen mit der Bühnenkünstlerin und Fat-Aktivistin Katharina Bill über Fatphobia, Fatshaming, Dickendiskriminierung, Täter-Opfer-Umkehr und all die Fiesheiten, die damit einhergehen.
Berliner Zeitung: Wie haben Sie auf die Bühne und in die Theaterarbeit gefunden? Das klingt wie eine Routinefrage, führt in Ihrem Fall ins Zentrum unseres Themas ...

Katharina Bill: Ja, das stimmt. Mütterlicherseits stamme ich aus einer Schauspieler:innenfamilie. Mein Opa war Intendant und Regisseur, meine Oma Schauspielerin, meine Mutter ist Kabarettistin, meine Schwester Schauspielerin. Wir waren als Familie auf der Kleinkunstbühne in dem kleinen fränkischen Städtchen Erlangen unterwegs. Ich habe Schultheater gemacht, leidenschaftlich Regie geführt. Und ich hatte große Lust, zum Theater zu gehen, ich wollte Regie studieren. Aber ich war ein dickes Kind, eine dicke Jugendliche. Als ich mitbekam, dass ich im Regiestudium auch einen Teil der Schauspielausbildung hätte durchlaufen müssen, fiel die Klappe. Das war unvorstellbar. Ich glaubte, dass ich ausgelacht werden würde, wenn ich überhaupt nur auf die Idee gekommen wäre, mich dort zu bewerben als dicke Person.
Bereuen Sie, dass Sie sich nicht beworben haben?
Nein, ich bin dann gleich an die Uni Hildesheim gegangen und habe dort Szenische Künste studiert, was für mich auch völlig richtig war. Ich habe dort das Diskurs- und Performance-Theater entdeckt und mache jetzt einen wilden Mix aus Regie, Performance, kultureller Bildung und Aktivismus. Das gefällt mir gut, weil alles miteinander zu tun hat, aber meine Arbeitsweise sich immer wieder stark unterscheidet.
Sie scheinen als Kind selbstbewusst gewesen zu sein. Wurden Sie gehänselt?
Ich bin in einer schlankheitsidealisierenden Gesellschaft groß geworden. In der Schule, im nahen Umfeld und durch die grundsätzliche Abwertung dicker Körper in der westdeutschen Gesellschaft der 1990er-Jahre wurde ich quasi täglich mal heftig, mal unterschwellig diskriminiert. Man kann das den Leuten nicht verübeln, die sind ja selbst infiltriert von diesem Schlankheitswahn. Aber es entstand daraus ein in mir tief verankerter Schmerz. Ich war in diesen Modus versetzt, dass ich grundlegend falsch bin, dass ich mich ändern muss, wenn ich dazugehören und mitmachen will.
Ist „dick“ eigentlich ein Schimpfwort?
In „dick“ oder „fett“ steckt an sich keine Wertung. „Übergewichtig“ oder „untergewichtig“ impliziert, dass es ein Idealgewicht gibt und alles darüber und darunter sei falsch. Deswegen hat sich jetzt der Begriff „mehrgewichtig“ durchgesetzt. Das sage ich, wenn ich mich korrekt ausdrücken möchte, weil viele Menschen „dick“ oder „fett“ abwertend benutzen. Ich selbst bezeichne mich als „fett“. Es ist für mich in diesem Zusammenhang nicht nur meine Körperform, sondern vor allem ein politischer Begriff.
Es gibt einen besonderen Punkt bei der Gewichtsdiskriminierung: Die Diskriminierten werden in die Verantwortung gezogen.
Welche Verantwortung? Wofür? Die Einstellung, die dahintersteckt, ist zutiefst fettenfeindlich, denn es impliziert, dass Dicksein schlecht ist – in jeder Hinsicht. Das hat mit „Healthism“ zu tun. Also einem sehr gefährlichen Menschenbild, das nur diejenigen integriert und privilegiert, die sich körperlich „richtig“ verhalten: nicht rauchen, nicht trinken, auf ihre mentale Gesundheit achten, Sport treiben, jung sind oder jung aussehen, sich „richtig“ ernähren und eben schlank sind oder es werden wollen. Wenn an Teilhabe und Chancengleichheit diese Bedingungen geknüpft sind, kann man das aus meiner Sicht „fundamentalistisch“ bezeichnen.

Dahinter steckt der Gedanke, dass mehrgewichtige Menschen, anders als solche, die wegen ihrer Körpergröße oder der Hautfarbe diskriminiert werden, etwas an dem Diskriminierungsgrund ändern könnten.
Ich werde so oft damit konfrontiert und möchte jedes Mal schreien: Es stimmt für die meisten Menschen einfach nicht, dass sie ihr Gewicht nach unten verändern können, denn die wenigsten Menschen können nach einer Diät oder neuerdings „Ernährungsumstellung“ dünn bleiben, und falls doch, dann nur, weil sie extrem hungern. Oder andere Faktoren, wie beispielsweise chronische Erkrankungen, sind der Grund für Mehrgewicht. In diesem Zusammenhang ist es aber doch komplett unbedeutend, ob ich mein Gewicht verändern könnte, wenn ich wollte. Warum sollte jemand sagen dürfen: Du könntest es verändern, also ist es doch ganz logisch, dass ich dir weniger Chancen gebe, dich ausschließe, über dich lache, gewaltvoll mit dir spreche, dir körperliche Gewalt antue, dich zu Diäten zwinge, dir eine schlechtere Gesundheitsversorgung gebe und so weiter. Warum?

Sie arbeitet als freie Performerin u. a. mit theatrale subversion, machina Ex, werkgruppe2 und Hannah Biedermann.
2021 entwickelte sie mit werkgruppe2 den Kurzfilm „Anna“, in dem sie als Protagonistin auftritt.
Im Oktober hat ihre Arbeit nach Liv Strömquists „Im Spiegelsaal“ am Deutschen Theater Premiere.
Können Sie sich vorstellen, dass Menschen genervt davon sind, jetzt auch noch auf mehrgewichtige Menschen Rücksicht nehmen zu müssen?
Für mich geht es nicht um Rücksicht, Verständnis oder Toleranz, sondern um Akzeptanz und den inneren Kompass unserer Gesellschaft. Im Sinne des Intersektionalitätsbegriffs von Kimberlé Crenshaw will ich mit meiner aktivistischen Arbeit die Lebensbedingungen aller marginalisierter Gruppen gleichzeitig verbessern helfen. Für mich ist der wichtigste Aspekt, dass Fatphobia, also Fettenhass, seinen Ursprung im Kolonialismus und Rassismus des 18. Jahrhunderts hat. Um den Sklavenhandel zu rechtfertigen und die damit einhergehende Entmenschlichung schwarzer Menschen, erklärten „Rassenwissenschaftler:innen“ schwarze Menschen zur unterlegenen Gruppe. Es wurde unter anderem das Narrativ verbreitet, sie seien unfähig, sich selbst zu kontrollieren. Es wurde behauptet, dass schwarze Frauen es lieben würden, unverhältnismäßig viel zu essen. Weiße Frauen der Oberschicht wurden ab diesem Moment angehalten, dünn zu sein, um die Vormachtstellung zu signalisieren. Die weiße Diätkultur war geboren. Das schreibt Sabrina Strings in ihrem Buch „Fearing the Black Body. The Racial Origins of Fat Phobia“. Dünnsein ist ja auch heute vor allem ein Merkmal sozialer Distinktion/Unterscheidung. Aber auch Ableismus, Klassismus, Misogynie und Ageismus spielen beim Fatshaming eine ganz grundlegende Rolle und kommen häufig ganz fies zusammen.
Wenn man selbst zu einer Aktivistin wird, wird man mit dem Problem identifiziert und ist auf ein bestimmtes Thema gebucht. War das bei Ihnen eine bewusste Entscheidung? Und werden Sie dadurch eingeschränkt?
Würde ich so nicht sagen. Ich interessiere mich dafür. Es ist eine philosophische Frage: Körper und Macht. Das ist ein Thema für eine Künstlerin. Ich fühle mich also nicht eingeengt, sondern bereichert. Fragt mich also bitte gern alle an für Körperthemen, aber ich möchte nicht nur darauf beschränkt werden.
Sabrina Strings: „Fearing the Black Body. The Racial Origins of Fat Phobia“
Sofie Hagen: „Happy Fat“
Fat Studies, Ein Glossar (kostenlos)
Melodie Michelberger: „Body Politics“
Elisabeth Lechner: „Riot, Don’t Diet“
Daniela Dröscher: „Lügen über meine Mutter“ (Roman)
Was fordert man als Fat-Aktivistin?
Als Erstes muss Gewichtsdiskriminierung ins Allgemeine Gleichstellungsgesetz aufgenommen werden. Das steht da nämlich noch nicht drin. Das heißt, man kann zum Beispiel gegen Gewichtsdiskriminierung am Arbeitsplatz nicht juristisch vorgehen. Was für ein Signal sendet das aus? Dass es nichts zu klagen gibt. Punkt zwei: Bildungsarbeit, Bewusstsein schaffen an Schulen, und es würde helfen, wenn man beim Thema Chancengleichheit über Privilegien sprechen würde. Ich bin weiß, habe den deutschen Pass, bin able-bodied, hatte echt Glück mit meinem Elternhaus usw. Aber das Privileg, ein Mann und dünn zu sein, habe ich nicht. So zum Beispiel.
Wie gehen Sie mit den Widerständen um? Ich kann mir vorstellen, dass Sie persönlich angegriffen werden und ein Feindbild abgeben ...
Ich lese nach solchen Interviews die Kommentarspalten lieber nicht oder lasse sie von Menschen aussortieren, denen ich vertraue und die nicht betroffen sind. Aber das ist noch nichts verglichen mit dem, was mehrgewichtige Women of Colour erleben. Die von mir sehr verehrte weiße Körperaktivistin Melodie Michelberger weist da immer wieder darauf hin. Auch ich bin mir meiner vergleichsweise privilegierten Position bewusst, ich werde ernster genommen, habe es in der Öffentlichkeit leichter als zum Beispiel Menschen, die von Rassismus betroffen sind. Ich möchte nicht die Fehler des White Feminism wiederholen. Ich will auch die Fatacceptance-Bewegung nicht kapern, die schwarze Frauen in den USA in den 1970ern initiiert haben und heute weiterführen. Ich bin nur ein Rädchen in diesem Diskurs. Als Theatermacherin fühle ich mich vor allem zuständig für die Sichtbarkeit dicker Körper, die Kritik an der Reproduktion fettenfeindlicher Stereotype in den darstellenden Künsten und kämpfe gegen Gewichtsdiskriminierung im Kulturbetrieb.
Sie arbeiten gerade mit dem Jungen DT an einer Adaption der Graphic Novel „Im Spiegelsaal“ von Liv Strömquist. Worum geht es da?
Um den Schönheitsdruck, der auf weiblich gelesene Personen ausgeübt wird und der sich durch moderne Spiegelsäle wie Instagram noch einmal verstärkt hat. Es gibt einen sexistischen Backlash, weil der Algorithmus diejenigen nach oben spült, die normschön sind und am besten viel Haut zeigen. Dieses Wertesystem überträgt sich auf gesellschaftliche Normen und so wird Schönheit zum Marktwert bzw. der Wert einer weiblich gelesenen Person wird noch stärker an ihren Körper gekoppelt. An einer Stelle schreibt sie: „Vielleicht ist dies das LETZTE Kulturideal, das wir alle teilen, das einzige, über das WIR UNS ALLE EINIG SIND: Schlank sein ist VOLL GUT!!!“ Diese Absurdität, die Auswirkungen, wie den massiven Anstieg von Magersucht bei Jugendlichen und wie stark weiße patriarchale Strukturen in uns wirken, verhandeln wir in der Inszenierung. Das klingt jetzt vielleicht ziemlich moralisch, aber die Graphic Novel ist voll mit historischen, soziologischen, philosophischen und popkulturellen Bezügen, stellt existenzielle Fragen und macht großen Spaß.
Sind Sie den Ärzten dankbar, dass sie sich von ihrem Lied „Elke“ distanziert haben?
