Jerusalem im Juni 1962: Der 13-jährige David versteht die Aufregung nicht, von der die gesamte Stadt ergriffen scheint. Mehr als der Prozess gegen diesen komischen Deutschen mit seiner schiefen Brille interessieren ihn die Pin-ups in der Wochenzeitung oder die kleinen Tricks, mit denen er seinen Alltag erleichtern kann. David ist mit seinen sephardischen Eltern erst vor kurzem aus Libyen nach Israel ausgewandert. Sein mürrischer Vater spricht nur Arabisch, das Jiddische oder Hebräische der aschkenasischen Mehrheit ringsum ist ihm fremd. Nach seinem Willen soll David so schnell wie möglich die Schule abschließen und dann zum Einkommen der Familie beitragen. Doch es kommt anders. Durch eine Verkettung von Zufällen gerät der Junge mitten hinein in die Weltgeschichte.
Der makaber-ironische Spielfilm „June Zero“ von Jake Paltrow erzählt auf raffinierte, weil zunächst indirekte Weise vom Völkermord. Der naive Blick des jungen Helden am Rande seiner Kindheit erlaubt Zwischentöne, öffnet verschiedene Perspektiven auf das um seine Identität ringende, noch junge Israel. Die Verhaftung und Verurteilung von Adolf Eichmann oszilliert mit den scheinbar banalen Problemen der „kleinen Leute“, erdet dadurch seinen abstrakten Stellenwert als Meilenstein des „Nation Building“. Auch andere fiktive Beiträge des Festivals verweben Handlungs- und Zeitebenen, deren Schnittstellen mit der Historie zu tun haben. Sie nähern sich aber dem nationalen Überthema „über Bande“, entkommen damit dem fatalen Eindruck, dass alle Geschichten bereits auserzählt sein könnten. Dass dies keineswegs der Fall ist, beweist das breite thematische und ästhetische Spektrum der diesjährigen Festivalausgabe ohnehin.
Asaf Saban begleitet in „Delegation“ eine Gruppe von Schülern bei der obligatorischen Klassenfahrt nach Auschwitz, macht die Abwehraffekte bei den Jugendlichen ebenso nachvollziehbar wie die verbindende Grundierung dieser Erfahrung über Generationen hinweg. Im argentinischen Mockumentary „The Klezmer Project“ von Paloma Schachmann und Leandro Koch öffnet die zunächst unbekümmerte Suche nach traditionellen Klezmer-Bands in Südosteuropa einen Weg, sowohl die durch die Shoah gerissenen Leerstellen als auch aktuelle Transformationsprozesse erfahrbar zu machen. Der in Berlin lebende Regisseur Ofir Raul Graizer lässt mit seinem kunstvoll verflochtenen Tragödien-und-Beziehungs-Karussell „America“ erahnen, wie tief die Verwerfungen zwischen Generationen sein können. Die vom Vater unfreiwillig auf den Sohn übertragenen Traumata werden mit dessen Versuchen überblendet, aus diesem Kreislauf auszubrechen.
Kratzen am Gründungsmythos Israels
Neben weiteren Lang- und Kurzfilmprogrammen, den Retros zur Staatsgründung vor 75 Jahren und über den Method-Acting-Pionier Jack Garfield gibt es auch eine kleine Reihe mit jüdisch intendierten Horror-Produktionen. Und dann sind es vor allem die zehn aktuellen Dokumentarfilme, die ein vielstimmiges Bild vom aktuellen jüdischen Selbstverständnis vermitteln. Eine Glorifizierung der israelischen Individual- oder Kollektivgeschichte findet dabei nicht statt. Margarita Linton rechnet in „The Artist’s Daughter, Oil on Canvas“ mit dem eigenen Vater ab. Der öffentlich allseits verehrte, betagte Künstler weicht beharrlich den Gesprächsversuchen seines Kindes aus, findet immer neue Ausreden. Doch die Regisseurin gibt nicht auf.
Ihr Film wird zum Vater-Tochter-Doppelporträt, das mit sanftem Druck die alte Frage aufwirft, ob denn überdurchschnittliche künstlerische Begabung zwischenmenschliches Versagen entschuldigen kann. „Tantura“ greift unmittelbar ein gesamtgesellschaftliches Tabu auf, kratzt sogar am Gründungsmythos Israels und der Legende von seiner Armee als moralischste Streitmacht der Welt. Der Titel benennt ein gleichnamiges Fischerdorf, in dem im Mai 1948 ein Massaker an vermutlich 100 Arabern verübt wurde. Basierend auf bereits 1988 von Menschenrechtsaktivist Theodore Katz mit Überlebenden geführten Interviews, kommen der Regisseur Alon Schwarz und der Rechercheur Alon Sohar (Zur Vorführung anwesend) noch einmal auf Wurzeln und Folgen dieses Gewaltausbruchs zurück.



