Ausgerechnet beim Berliner Staatsballett, wo mit einem Intendantenwechsel gerade eine neue Ära beginnt, ausgerechnet hier ist die erste große Premiere von Marco Goecke nach dem großen Hundekot-Skandal über die Bühne gegangen. Ein illustres Premierenpublikum tummelte sich in der ausverkauften Staatsoper Unter den Linden. Auch alle weiteren Aufführungen des „Strawinsky“ betitelten Abend, zu dem neben Goeckes „Petruschka“ noch Pina Bauschs „Frühlingsopfer“ gehört, sind ausverkauft. Was soll man sagen? Niemand scheint sich für den Skandal, der fast schon die Karriere des Choreografen zu beenden schien, zu interessieren.
Die Menschen sind gekommen, um großes Ballett zu sehen. Genau das wird ihnen geboten an diesem Abend. Sicher konnte man sich da nicht unbedingt sein. Denn so ruhig und klar die Entscheidung gefallen sein mag, Goeckes 2016 für das Züricher Ballett entstandene „Petruschka“ wie geplant zu zeigen, allerdings in einer Einstudierung nicht von Goecke selbst, sondern von einer seiner Assistentinnen – mit Störern ist in solchen Fällen immer zu rechnen. Gerade in Berlin.
Und dann Bauschs „Frühlingsopfer“, 1975 in Wuppertal uraufgeführt, ein Meilenstein der Ballettgeschichte. Getanzt wird barfuß auf einem mit Torf ausgelegten Boden, der die Bewegungen behindert und schwer macht. Ein Werk, so meisterhaft, dass man davor niederknien möchte. Aber dieses Stück steht und fällt mit einer unmittelbaren, emotionalen Ausdrucksstärke, die dem Ballett eher fremd ist. Dass die Staatsballett-Tänzerinnen das hinbekommen, war fraglich.
Marco Goecke gehört zu den aufregendsten Choreografen der Gegenwart
Für Einstudierung und Proben sind gleich sieben Personen der Pina-Bausch-Foundation angereist. Viel Aufwand also. Aber wenn die ersten hohen, fallsettartigen Töne von Strawinskys „Sacre“ erklingen und die ersten Tänzerinnen so unerklärlich beklemmend, wie aus den Tönen entwachsen, auf der Bühne erscheinen, weiß man, es hat sich gelohnt. So geht es weiter. Tänzer, gefangen in der Musik, in Ritualen, in ihren Rollen. Ein Opfer muss es geben. Darauf läuft alles zu. Am Ende stehende Ovationen.

Davor Marco Goecke. Insektenartiger, stechender, Marionettentanz. Schnell, scharf, grausam. Petruschka, die traurige, an sich selbst und ihrer unglücklichen Liebe zur Ballerina verzweifelnden Jahrmarktspuppe: Goecke stattet sie mit düsterem Stummfilm-Expressionismus aus. Und Alexandre Cagnat tanzt das mit beklemmender Eindrücklichkeit. Die Szenerie des Jahrmarkts, die sich darauf tummelnden Figuren mit dem Scharlatan und seinen drei Puppen, hat Goecke beibehalten. Aber auf eine entschlackte, sehr abstrakte Weise. Das Mechanische in der Musik wird überdreht bis zum Anschlag. Zwanghaft ist hier alles, rasend schnell. So, dass es wehtut. Bis zum bitteren Ende. Bis Petruschka, die Puppe, die verzweifelte und darin einzig menschliche Figur, hinterrücks gemeuchelt, als Geist mit klapperndem Gebiss erscheint. Zwar kein Jahrhundertwerk, wie bei Bausch – aber doch großes Ballett.
Goecke hat für sein Verhalten bereits einen hohen Preis gezahlt und es ist noch nicht das Ende. Die Gerichtsverhandlung steht noch aus. Sollte einen das an einem Abend wie diesen interessieren? Wirft es ein anderes Licht auf das Werk? Eher nicht. Goecke gehört zu den aufregendsten Choreografen der Gegenwart. Nach angemessener Zeit wird er, davon ist auszugehen, wieder neue Werke entwickeln, vermutlich auch in Berlin. Aber diese Zeit ist noch nicht verstrichen.
In der nächsten Spielzeit nicht angesetzt
Dass der „Strawinsky“-Abend nach dem Skandal nicht kurzfristig gecancelt werden konnte, dafür gab es Verständnis. Auch dafür, dass dieser Abend in der nächsten Spielzeit nicht angesetzt wurde. Aber es ist trotzdem bedauerlich. Denn diese „Petruschka“, aber vor allem Pina Bauschs „Frühlingsopfer“ sollte dem Berliner Publikum nicht vorenthalten werden. Mit der Einladung dieses Werks verabschiedet sich die Interims-Intendantin Christiane Theobald, die seit 36 Jahren die Ballettgeschicke in Berlin ganz wesentlich mitbestimmt hat, mit einem großen Geschenk an die Stadt. Und sie verabschiedet sich mit einem Programmheft, das erstaunlich neue Töne anschlägt. Das Staatsballett setzt auf politische Korrektheit und setzt sich kritisch mit Strawinskys Exotismus und rassistischen Stereotypen in seinem Werk auseinander.
Was das für die Zukunft bedeuten wird? Welche klassischen Stücke können überhaupt noch gespielt werden? Welche Formen der Auseinandersetzung braucht es dafür? Das klassische Ballettpublikum scheint sich für solche Fragen nur sehr begrenzt zu interessieren. Umso wichtiger, dass das Staatsballett es tut. Dass es damit weitergeht, damit ist unter der neuen Intendanz von Christian Spuck in der nächsten Spielzeit zu rechnen.



