Er hat es wieder getan: Mit „No Limit“ über die 1990er hat Jens Balzer sein drittes Buch geschrieben, das sich einer Dekade widmet, popkulturell und mentalitätsgeschichtlich. Wir treffen Balzer bei seinem Lieblingsitaliener Delizie D’Italia in der Kollwitzstraße auf Antipasti und Carpaccio, um mit ihm über Berliner Technokeller und die Spice Girls zu sprechen – und warum den 1990ern zu Unrecht so ein unbeschwertes Image anhaftet.
Herr Balzer, wenn Sie in dem Tempo weiterschreiben, erscheint Ihr Buch über die 2020er genau 2029, und Ihr Buch über die 2030er schon 2031. Dann würden wir mit Ihnen in die Zukunft reisen.
Ich wollte immer schon Science-Fiction-Autor werden!
Ernsthaft: Wie schreiben Sie so schnell?
Als ich das Buch über die 1970er gemacht habe, hatte ich keine Trilogie geplant. Aber dann haben sich daraus so viele rote Fäden ergeben. Die 1990er haben sich dann nahtlos aus den 1980ern ergeben. Außerdem bin ich alt genug, um das alles miterlebt zu haben.

Nach „Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er“ (2019) und „High Energy. Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt“ (2021) ist „No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“ nun Balzers dritter Band zu einem popkulturellen Jahrzehnt.
Was schon auffällt: Dass das Buch, verglichen mit den beiden Vorgängern, weniger auf die Musik zoomt – sondern mehr Kulturgeschichte und überhaupt Geschichte enthält.
Es ging mir immer um Mentalitätsgeschichte – und darum, wie sich in der Popkultur gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln. Mein 1970er-Buch fing mit Woodstock an, aber auch mit der Mondlandung. Musik kam immer dann vor, wenn ich das Gefühl hatte, dass sich daraus gesellschaftlich etwas erklären lässt. Etwa Disco als kulturelle Widerspiegelung queerer Emanzipation. Und in den 1980ern Punk und New Wave als Subkulturen. Aber auch da ging es mir um die Krise der Arbeitsgesellschaft, um die Gesellschaft der Angst, um die Etablierung der Gegenkulturen. Ich glaube aber tatsächlich, dass seit den späten 1960ern Musik eine immer geringere Bedeutung bekam.
Jens Balzer über sein 1990er-Buch „No Limit“: „Techno war Funktionsmusik“
Als Spiegel der Gesellschaft?
Ja, genau. Die epochale Bedeutung, die Musik für die Hippie-Bewegung hatte! Ich glaube, man tritt niemandem zu nah, wenn man über Techno in den 1990ern sagt: Das war jetzt als Musik an und für sich nicht so wahnsinnig interessant. Es ging darum, dass man sich freie Räume eroberte zu möglichst minimalistischen Beats. Das war Funktionsmusik. Wenn man Gesellschaftsgeschichte im Spiegel der Popkultur erzählen will, dann hat Musik dabei in den 1990er-Jahren einen relativ geringen Anteil. Deshalb habe ich mehr über Tätowierungen, Lifestyle und Fernsehserien geschrieben. Ein anderer Unterschied scheint mir aber noch gewichtiger zu sein: Westdeutschland war in den 1970ern und 80ern popkulturell eng verbunden mit den USA. In den 1990ern wurde dann mit der Wiedervereinigung natürlich sehr viel wichtiger, was in den neuen Bundesländern geschah.
Stimmig also, dass Ihr Buch in Berlin mit der Grenzöffnung der DDR beginnt.
Das Jahrzehnt fängt an mit diesem epochalen politischen Bruch – mit den Hoffnungen, die sich damit verbinden. Und dann endet das Buch mit 9/11. Viele der Hoffnungen, dass man sich in einer stabileren, friedlicheren Welt befindet, sind damit dann erledigt.
In Ihrem Nachwort wird der Gedanke referiert, dass wir in den 1990ern quasi „Urlaub von der Geschichte“ hatten. Während der Lektüre wirkt es allerdings kaum so. Von rassistischer Gewalt in den neuen Bundesländern über den Jugoslawienkrieg hin zur Fatwa gegen Salman Rushdie. Da war schlimm was los!
Aber es gab 1989 von Francis Fukuyama den Gedanken, dass wir am Ende der Geschichte angelangt seien. Der wird inzwischen abgetan als Quatsch. Aber so war ja damals wirklich eine Stimmung: der Triumph des liberalen Kapitalismus und der demokratischen Gesellschaften. Das war der kulturelle Spirit, auch in Berlin. Und auch ins Internet setzte man viele Hoffnungen: dass die global vernetzten Menschen sich besser kennenlernen und in Frieden leben. Am Ende der 1990er war klar, dass das alles nicht stimmte.
Das klingt nach einer Desillusionierung, oder? Aus Underground-Techno werden eine hyperkommerzialisierte Loveparade und Schlumpf-Techno. Aus Deutschrap als Sprachrohr der zweiten, postmigrantischen Generation wird der stumpfe Partyhedonismus der Fantastischen Vier. Und aus dem Anarcho-Internet entstehen globale Konzerne wie Amazon und Google.
Wobei das ja im HipHop gleichzeitig passierte, die Fantastischen Vier debütieren sogar noch vor Advanced Chemistry. Da war es keine Verfallsgeschichte. Und was Techno und das Internet angeht: Das ist in der Popkultur fast immer so gewesen, dass etwas aus dem Underground kommerzialisiert wurde. Aber beim Internet ging es schon besonders schnell: 1992 dachte man, mit dem World Wide Web bricht die große politische Freiheit aus. 1995 ist klar, es ist doch nur die Freiheit des Konsumenten. Und 1998 werden die Cookies zum verbreiteten Instrument, um die Konsumenten zu kontrollieren, um sie zu gläsernen Menschen zu machen. Die totale Überwachung, umfassender als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte.
Ihr Buch ist auch eine Mediengeschichte: Es geht ums Privatfernsehen, um Handys und Anrufbeantworter.
Die 1990er sind das Jahrzehnt, in dem sich die Kommunikationsverhältnisse krass gewandelt haben. 1989 gab es in meiner ersten Wohnung noch ein Telefon mit einer Schnur an der Wand. Und was das für ein Gehampel war, den ersten Anrufbeantworter anzukriegen! Und wie sehr man sich lustig gemacht hat über wichtigtuerische Männer, die 1993 mit Mobiltelefonen rumliefen! Fünf Jahren später hatten das alle.
Wer ist denn eigentlich schuld am Verschwinden der Freiräume, von Techno-Kellern bis zum Internet? Der Kapitalismus?
Ich finde das schwierig, von „dem“ Kapitalismus zu reden. Der Kapitalismus sind wir irgendwie alle.
Dann sind wir alle dran schuld?
Mein Buch heißt im Untertitel „Das Jahrzehnt der Freiheit“, will aber auch davon erzählen, dass die Hoffnungen auf Freiheit vielfach enttäuscht wurden. Und davon, dass Menschen sehr unterschiedliche Ideen von Freiheit haben. Die Freiräume der Techno-Szene von Berlin sind überhaupt nur entstanden, weil gerade ein Staat kollabiert war – und Millionen von Menschen arbeitslos wurden. Der Mythos vom geilen Berlin war dadurch erkauft, dass man in bankrottgegangenen Fabriken Techno feiern konnte. Es hatte eine dunkle Rückseite, die von der Techno-Szene der 1990er gerne ignoriert wurde. Viele dieser Häuser standen übrigens deshalb so lange leer, weil das alter jüdischer Besitz war.
So gesehen eine ziemliche Verniedlichung, von Abenteuerspielplatz zu sprechen.
Ja, das ist ein Mythos. Und er hat eine dunkle Schwester: die sogenannten national befreiten Zonen der Rechtsextremen. Sowohl von links als auch von rechts glaubte man, man könne sich Territorien einrichten. Jeweils mit einem eigenen Verständnis von Freiheit.
Wobei die Flächen, die die Linken besetzten, vorher schon frei waren – während die Rechten versucht haben, aktiv zu verdrängen.
Ja, aber beide hatten eine antistaatliche Stoßrichtung. Ich war bei der Antifa, mir liegen die Linken näher als die Rechten. Ich finde es aber interessant, dass nicht erst die Neurechten der Gegenwart mit Gramsci und Foucault und Hegemonietheorien argumentieren; das gab es schon 30 Jahre zuvor, eine Idee davon, dass man sich freie Zonen schafft, in denen man selber das Sagen hat.
Jens Balzer: „Je mehr Menschen kommunizieren, desto mehr Konflikte gibt es“
Und im Internet?
Im Internet gab es die Idee: Alle können sich mit allen vernetzen, und das gesamte Wissen der Welt steht zur Verfügung. Man dachte, das würde zum Frieden der Menschheit führen: Wenn alle miteinander kommunizieren, können irgendwann alle feststellen, dass sie alle das Gleiche wollen. Mittlerweile wissen wir: Das ist gerade nicht der Fall. Je mehr die Menschen miteinander kommunizieren, desto mehr Konflikte gibt es. Weil die Vorstellungen von Freiheit doch sehr unterschiedlich sind. Fast zeitgleich mit dem Fall der Berliner Mauer beginnt auch die Fatwa gegen Salman Rushdie.
Sie beschreiben die 1990er auch als eine Zeit religiöser Radikalisierung, die in 9/11 mündet.
Die Islamische Revolution im Iran war schon 1979. Aber es ist doch auffällig, dass Religion, die in den 1980ern im Westen fast verschwunden schien, in den 1990ern wieder eine große Rolle spielte. Der zentrale Widerspruch der 1990er ist: Auf der einen Seite haben wir diese radikale Individualisierung und den Höhepunkt dessen, was wir im Westen Postmoderne nannten. Gefühlt alle ließen sich tätowieren, haben im Privatfernsehen über ihren BDSM-Fetisch gesprochen. Man konnte gar nicht extrem genug individuiert sein. Auf der anderen Seite beharrten viele Leute nun wieder auf ihrer kollektiven Identität – sei es metaphysisch, religiös-dogmatisch oder nationalistisch. Etwa als fanatisch politisierter Muslim oder als deutscher Neonazi. Also einerseits die Postmoderne, ein Spiel der Zeichen, das die Menschen befreit. Und andererseits eine Gegenströmung: die Sehnsucht nach den alten Identitäten und Autoritäten.
Jens Balzer im Interview: „Techno bei Sonnenschein hab ich nie verstanden“
Sie schreiben von Arschgeweih-Tattoos und stonewashed Jeans als Marker von Individualität. Letztlich werden sie aber zu Massenphänomenen.
1990 kannte ich niemanden, der tätowiert war. Dann ging das aber ganz schnell. Ich denke, das ist schon noch mal was anderes, ob man sich bestimmte Klamotten überzieht oder in seinen Körper etwas einschreibt. Das Gefühl, etwas für die Ewigkeit zu machen.
Im Buch schwingt diese Einstellung mit, dass wir von Alltagsphänomenen nicht weniger lernen können als von Baudrillard oder Deleuze.
Oder auch von Wahlergebnissen und großen politischen Entwicklungen. Zusätzlich wollte ich aber auch den Leuten, die in den 1990ern dabei waren, etwas Vertrautes geben. Wenn es gut läuft, erkennen sie etwas wieder – und denken dann noch mal drüber nach, was das in Wirklichkeit bedeutete.
Erinnern Sie sich an Ihre ersten Techno-Partys in Berlin?
Das war noch in Ruinenkellern. Ich komme ja aus der 1980er-Jahre-Industrial-Szene und mochte das sehr. Ich hatte immer eine große Leidenschaft für Stroboskop und Trockeneis-Nebel. Und auch harte Beats. Völlig ratlos ließ mich aber dieser ganze Loveparade-Techno zurück: Die Idee, auf irgendwelchen Wagen bei Sonnenlicht die Straße rauf und runter zu fahren, fand ich totalen Quatsch. Nachts im Keller in der Dunkelheit, das verstand ich sehr gut. Aber bei Sonnenschein mit grellen Farben? Das hab ich nie verstanden.
Die Technokultur hatte keine Ideologie.
In einer bestimmten Zeit konnten alle miteinander. Techno war der Soundtrack, zu dem Leute aus Ost und West miteinander feiern konnten. Einige der Konflikte zwischen Rechten und Linken konnten sogar dadurch gemildert werden, dass 1995 alle zu Techno tanzten. Hier in Berlin im Bunker bei den ersten Snax-Partys hatten die Techno-Schwulen auch eine Faszination für die Stiefelträger aus Mecklenburg und aus dem Brandenburgischen. Für eine Zeit hatte Techno etwas Proletarisches – wobei man nicht so genau wissen wollte, was die Leute zu Hause politisch denken.
In Ihrem Buch kommen die Spice Girls als konservative Nationalistinnen rüber, die Margaret Thatcher verehren.
Es war mir wichtig, das so aufzuschreiben, weil ich bei vielen jüngeren Kolleginnen diese Mythisierung der Spice Girls immer befremdlich fand. Ein Jahrzehnt, in dem die Spice Girls als große Feministinnen durchgehen? Ernsthaft? Da sieht man schon, dass mit dieser Zeit etwas nicht stimmen kann! Im Video zu „Wannabe“ reißen sie erst mal einem Obdachlosen höhnisch die Mütze vom Kopf, bevor sie eine Schicki-Party stürmen. Das ist so krass klassistisch!
Vieles in Ihrem Buch klingt sehr ernüchternd: schlimm, wie viel Scheiße sich damals schon angebahnt hat. War die Beschäftigung mit den 1990ern eine ernüchternde, frustrierende Erfahrung?
Ja, das war so. Das war aber auch Ziel meines Buches, weil die 1990er ja immer noch in dem Ruf stehen, dass sie das große hedonistische Spaßjahrzehnt waren. Ich wollte zeigen, dass das nicht der Fall war. Mein Buch heißt „Das Jahrzehnt der Freiheit“, aber das ist im Grunde …
… ein zynischer Titel?
Ich wollte zeigen, dass es mit dieser Freiheit nicht besonders weit her war.
Spoiler: Werden die Nullerjahre wieder besser?
Nee. 9/11, Irakkrieg, Guantanamo. Die Neunziger enden mit der Erkenntnis des Westens, dass er im politischen Islam einen grimmigen Gegner bekommen hat. Aber in den Nullerjahren merken wir, dass der Westen sein eigener Feind ist: Christlicher Fundamentalismus, Nationalismus und Rechtspopulismus zersetzen den Westen von innen. Nichts daran ist erfreulich.
Trotzdem macht es Spaß, Ihr Buch zu lesen. Den Humor haben Sie sich bewahrt.
Spaß soll es schon machen. Aber ich hatte speziell bei diesem Buch das Gefühl, dass einem das Lachen öfter im Halse stecken bleibt.
Jens Balzer: No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit. Rowohlt, Berlin 2023. 384 Seiten, 28 Euro
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