Jelena Subotić ist Politik-Professorin an der Georgia State University im US-amerikanischen Atlanta. Sie schreibt über internationale Beziehungen, Erinnerungspolitik und die Politik der Balkanländer. Ihr jüngstes Buch „Red Star: Holocaust Remembrance after Communism“ erklärt, wie osteuropäische Länder – darunter auch Ungarn – nach dem Zusammenbruch des Kommunismus das Holocaust-Gedenken teils für politische Ziele instrumentalisieren. Subotić kommentiert regelmäßig Kriegsverbrechen und Balkan-Politik für CNN, BBC und andere Medien.
Berliner Zeitung: Viktor Orbán hat in den letzten Jahren eine Reihe extremer Maßnahmen eingeleitet. Er schloss etwa die Central European University, um die Lehre von Feminismus und Gender Studies zu verbieten. Wie würden Sie die Situation für kritische Stimmen in Ungarn heute beschreiben?
Jelena Subotić: Es ist extrem schwierig. Orbán hat in Ungarn unheimlich viel Macht an sich gerissen – gerade was diese sozialen Themen angeht. Die Behandlung sexueller Minderheiten, von LGBTQ-Menschen, die Islamophobie und der Antisemitismus in Ungarn sind keine Luxusprobleme, sondern fester Bestandteil der Aushöhlung der Demokratie. Es ist ein Angriff auf den Liberalismus. All das ist Teil einer größeren Agenda, wie Orbán die ungarische Gesellschaft umgestalten will. Dazu gehört die totale Kontrolle über das Leben aller Menschen, um seine Macht zu sichern.
Was ist Ihrer Meinung nach Orbáns größere Vision?
Es ist ein klarer Rückschlag in die Vergangenheit. Im 20. Jahrhundert gab es verschiedene Ideologien, die den Schwerpunkt auf die Familie und das Private legten und die Nation in den Mittelpunkt stellten. Was Orbán vorschwebt, ist eine totalisierende und patriarchale Ideologie, die keinen Raum für Widerspruch lässt. In dieser Vision sollen alle christlich und heterosexuell sein. Frauen sollten Kinder kriegen, alle sollten weiß sein. Es ist eine Ideologie, die keine abweichenden Stimmen zulässt, weshalb er Universitäten und Zeitungen schließen lässt. Orbán inszeniert sich als Vater der Nation, als Autorität, auf die jeder hören muss, als Einzigen, der Wohlstand bringen kann.
Mit Giorgia Meloni steht jetzt eine Rechtsextreme an der Spitze Italiens. Putin wird zunehmend autoritärer. Sehen Sie diese Entwicklung als Teil einer neuen autoritären Ordnung in Europa?
Definitiv. Es gibt direkte Linien zwischen Meloni und Putin. Die Sprache, mit der sie über die Familie sprechen, ist sehr ähnlich. Es ist ideologisch koordiniert und geht über die Grenzen Europas weit hinaus. Das reicht vom Trump-Flügel der Republikanischen Partei bis zu Bolsonaro in Brasilien und Marcos auf den Philippinen. Es ist kein nur europäisches Problem.
Ungarn ist Teil der EU. Was könnte die EU tun, um Druck auf Orbán auszuüben?
Das Problem mit der EU ist, dass sie auf dem grundsätzlichen Optimismus fußt, dass die Länder demokratisch und liberal sein wollen. Die EU-Institutionen sind nicht mit den nötigen Instrumenten ausgestattet, um mit Ländern umzugehen, die europäische Werte nicht teilen. Es ist, als hätten sich die Gründer der EU dies gar nicht vorstellen können. Und in gewisser Weise ist das vielleicht der Punkt, der an der EU so visionär war. Vielleicht ist es besser, Länder nicht zu isolieren. Vielleicht mildert der bloße Umstand, in der EU zu sein, noch immer die schlimmsten Instinkte autoritärer Führer wie Orbán. In diesen Tagen können wir auf Russland blicken und sagen: Ein Land außerhalb Europas Institutionen fühlt sich offensichtlich in keiner Weise durch europäische Richtlinien eingeschränkt. Vielleicht sollten wir Ungarn also nicht einfach rausschmeißen, zumal es schlicht zu einem weiteren Russland werden könnte.

Welche Einflussmöglichkeiten hat die EU dann überhaupt?
Prinzipiell ist es für die EU viel einfacher, Druck auf Länder auszuüben, die noch nicht Mitglieder sind und beitreten wollen. Länder wie Serbien, die Ukraine, Bosnien und Herzegowina oder Mazedonien. Dort hat man ein Druckmittel, um Reformen als Beitrittsbedingung zu fordern. Im Falle Ungarns versuchte die EU-Führung, Druck auszuüben, indem sie ungarische Projekte nicht mehr finanzierte. Auch im Europäischen Parlament gibt es vereinzelt Widerstand, weil einige Mitglieder dort nicht mit der extremen Rechten in Verbindung gebracht werden wollen.
Sollten führende europäische Politiker wie der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in Ihren Augen versuchen, Orbán zu isolieren – oder ihm die Hand reichen und ihn so beeinflussen?
Orbáns Politik widerspricht allem, was Europa ausmacht. Es ist daher sehr wichtig für die EU-Führung, so gut wie alles, was er tut, streng zu verurteilen. Etwa die Schließung von Zeitungen und Universitäten oder die Behandlung von Geflüchteten. Das sollten wir weder tolerieren noch ignorieren. Sicher, es kann in der EU eine Vielfalt politischer Ansichten geben. Aber es gibt doch Dinge, die wir Mitgliedern nicht erlauben können. Wenn europäische Politiker solche Klarheit zeigen, helfen sie damit auch den orbánkritischen Stimmen in Ungarn. Es ist sehr wichtig für Andersdenkende in Ungarn, wenn sie wissen, dass es in den europäischen Institutionen jemanden gibt, der ihnen zuhört.
Es gibt also noch eine funktionierende ungarische Zivilgesellschaft?
Ja, in Budapest mehr als in den kleineren Städten. Das Problem ist, dass die Struktur zivilgesellschaftlicher Organisationen durch Orbán zersetzt wurde. Wie auch Putin hat er versucht, Nichtregierungsorganisationen zu zerschlagen, und sie beschuldigt, Spione zu sein für den Westen. Institutionell ist die ungarische Zivilgesellschaft sehr schwach. Ihre Budgets werden eingefroren, Lizenzen werden entzogen. Es ist auch schwierig, eine kritische Botschaft nach außen zu tragen, wenn alle unabhängigen Medien geschlossen wurden. Es ist sehr schwierig, diese Stimmen zu Gehör zu bringen. Die Opposition in Ungarn braucht Unterstützung von außen.
Sie haben ein Buch über das Gedenken an den Holocaust in Osteuropa veröffentlicht. Kürzlich sprachen Sie in Berlin darüber, wie Orbán das Erbe des Holocausts instrumentalisiert. Können Sie erläutern, wie das in Ungarn funktioniert?
Die Instrumentalisierung des Holocausts für politische Zwecke ist ein Problem, das weit über Ungarn hinausgeht. In Ungarn sind diese Versuche nur sehr offenkundig. Ich nenne Ihnen zwei Beispiele. Das erste ist das „Haus des Terrors“-Museum. Es ist eine große Touristenattraktion und wurde unter Orbáns Anleitung realisiert. Dahinter steht die Vision, die Geschichte Ungarns vor und nach der deutschen Besatzung von der Besatzungszeit selbst komplett zu entkoppeln. Demnach wurde alles, was in Ungarn in der Zeit des Holocausts geschah, von Nazideutschland verantwortet, einschließlich der Deportation ungarischer Juden, bei der in zwei Monaten etwa 600.000 Menschen zumeist nach Auschwitz deportiert wurden. Dieses Museum und andere ähnliche Einrichtungen behaupten, dies sei allein auf die deutsche Besatzung zurückzuführen.
Was beinhaltet diese Darstellung historisch und politisch?
Sie behauptet, dass die ungarischen Juden vor der Besetzung Ungarns durch die Deutschen 1944 geschützt waren, dass alles in Ordnung gewesen sei. Das ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Die Führung Ungarns deportierte etwa 60.000 Juden vor der deutschen Besetzung. Die Ungarn führten auch selbst Pogrome durch, darunter ein großes in Novi Sad, im heutigen Serbien. Im Haus des Terrors erfährt man natürlich nichts von dieser Geschichte. Dort geht es lediglich darum, zu zeigen, dass Ungarn das Opfer von Nazideutschland war. Es ist auch ein Versuch, das damalige Staatsoberhaupt Miklós Horthy, der selbst sehr antisemitisch war, von jeder Verantwortung für den Holocaust freizusprechen. Dadurch entsteht ein verzerrtes Bild ungarischer Geschichte. Zudem setzt das Museum den Nationalsozialismus direkt mit Kommunismus gleich. Die Erzählung lautet, dass Ungarn Opfer des Nazismus wie des Kommunismus war. Das ist nur eine weitere Form der Geschichtsverfälschung.
Was ist das zweite Beispiel, das Sie andeuteten?
Orbán hat ein riesiges Denkmal für die Opfer der deutschen Besatzung in Budapest in Auftrag gegeben, das 2014 eingeweiht wurde. Es ist ein Zeichen dafür, wie Ungarn von Deutschland angegriffen wurde. Es zeigt einen deutschen Reichsadler, der den Engel Gabriel angreift, der Ungarn symbolisiert – nicht sehr subtil. Es geht darum, zu zeigen, dass Ungarn ein engelhaftes Unschuldslamm war; dann kam der deutsche Reichsadler und zerstörte alles. So wird Ungarn selbst als Opfer dargestellt, nicht die ungarischen Juden. Damit einher geht die Vorstellung, dass Ungarn Opfer sind und sich nicht mehr entschuldigen müssen. Viele Überlebende waren zu Recht empört.
Ist diese Art von Revisionismus etwas, das erst mit Orbán begonnen hat?
Es begann mit dem Ende des Kommunismus 1989. Die neuen Eliten mussten zeigen, dass sie ganz anders sind als der Kommunismus. Und so stellten sie den Kommunismus als linksextreme Ideologie dar, von der man sich entfernte, indem man sich rechtsextremer Ideologie zuwandte. Die neuen Regierungen beschlossen, ethnischen Stolz, Religion, Christentum und alles, was der Kommunismus verboten hatte, wieder stark zu machen. Einigen Ländern gelang dieser Übergang besser als anderen. Aber selbst in Polen, wo es eine etwas progressivere Regierung gab, ist alles weiter nach rechts gerutscht. In Teilen mag das mit der Enttäuschung des Übergangs zu tun haben. Die Menschen dachten, dass es ihnen nach dem Ende des Kommunismus besser gehen würde, wie dem Rest Westeuropas. Aber der Lebensstandard blieb weiterhin niedrig. Dann kamen Populisten an die Macht, die Muslimen, Juden, Queers und Feministinnen die Schuld an allem gaben. In Ungarn hat diese Rhetorik sehr gut funktioniert.
Wissenschaftler wie Jan Grabowski und Barbara Engelking wurden in Polen mit Verleumdungsklagen konfrontiert, weil sie die Rolle der polnischen Bevölkerung in der Nazi-Besatzung erforschen. Sehen Sie ähnliche Entwicklungen in Ungarn?
Die Fälle in Polen sind sehr bekannt, weil die Ermordung von Juden durch Bürgerinnen und Bürger in Polen häufiger war als in Ungarn. Ungarn, die Juden töteten, waren meist in der Gendarmerie oder in der Miliz. Gleichzeitig wird die ungarische Forscherin Andrea Pető heute zur Feindin des Orbán-Regimes erklärt, nicht nur wegen ihrer Arbeit über den Holocaust (sie beschäftigt sich mit der Verantwortung der ungarischen Bürger in der NS-Zeit), sondern auch wegen ihrer Arbeit über Gender.
In einem Interview für das israelische Magazin +972 Magazine sprachen Sie zuletzt über Verbindungen Orbáns zur Rechten in Israel. Das mag angesichts von Orbáns codiertem Antisemitismus überraschen. Sehen Sie das als strategische Allianz?
Ich denke, dieses Bündnis ist aus ungarischer wie aus israelischer Sicht ein strategisches. Aus israelischer Sicht will man außenpolitische Unterstützung und jemand in den Vereinten Nationen, der weiter gegen einen palästinensischen Staat stimmt. Solange sie Länder haben, die ihnen das anbieten, ist es egal, was dort sonst noch vor sich geht. Aus ungarischer Sicht ist es sehr nützlich, Verbündete in Israel zu haben. So kann man sich von dem Vorwurf freisprechen, antisemitisch zu sein. Orbán hat all diese schrecklichen Dinge über George Soros gesagt und glaubt an eine Art Globalkapitalismus. Indem er sagt, dass er ein Freund Israels sei, entlastet er sich vermeintlich selbst. Das ist eine Strategie, die man in vielen anderen Ländern beobachten kann. Zudem lieben viele Rechtsextreme, was Israel tut. Sie bewundern Israel dafür, wie es Muslime bekämpft, für den starken Staat und für das starke Militär. Ideologisch gibt es einige Gemeinsamkeiten, die unter Netanjahu besonders sichtbar waren. Netanjahu teilt mit Orbáns etwa den Paternalismus und seine Islamophobie.
Wie schätzen Sie Orbáns Rolle im Krieg gegen die Ukraine ein?
Ich denke, dass Ungarn noch abwartet, wie sich das Ganze entwickelt. Es gibt eine Affinität zu Putin, aber ich bin mir nicht sicher, ob oder wie sich diese Affinität in tatsächliche Unterstützung übersetzt.
Was wäre eine gute Entwicklung, die Ungarn einschlagen könnte?
Autoritäre Staatsmänner wie Orbán machen irgendwann immer einen Fehler. Sie tun etwas, das Menschen einfach nicht mehr länger tolerieren können. Vielleicht betrügen sie bei Wahlen. Oder sie treiben das Land in den wirtschaftlichen Ruin. Momentan würde Orbán die Wahlen wahrscheinlich gewinnen, selbst wenn sie fair abliefen. Aber er ist keineswegs bei allen beliebt. Erst kürzlich gab es Bürgermeisterwahlen in Budapest, bei denen eine sehr fortschrittliche Person kandidierte. Ich glaube nicht, dass dieses Regime sich ewig halten wird.




