Kolumne

„Gerd ist im Krankenhaus“: Haben wir das Schicksal herausgefordert?

Plötzlich muss der Schwiegervater ins Krankenhaus. Und man stellt fest, dass man jahrelang nicht genau hingesehen hat.

Und plötzlich liegt der Schwiegervater im Krankenhaus.
Und plötzlich liegt der Schwiegervater im Krankenhaus.Sylvio Dittrich/imago

Früh um fünf klingelte das Telefon: Monika, die Schwiegermutter. „Gerd ist im Krankenhaus“, schluchzte sie. Der Schwiegervater, womöglich Herzinfarkt. Seitdem ist meine Frau an der Küste, um ihren Eltern beizustehen. Es war nicht die Pumpe, sondern Krebs, kurz vor Darmverschluss.

Beide sind fast 80. Gerd leidet unter Vorerkrankungen. Monika wirkt äußerst vital, ist aber dement. Ständig hat sie Besuch von toten Verwandten. Für die deckt sie ein paar Teller mehr auf. Zuletzt rief sie an, ob wir nicht wüssten, wo ihr Gerdchen sei. Keine Sorge, ließ sich selbiger beruhigend von hinten vernehmen, er sei doch da. Nein, wimmerte Monika, das ist nicht mein, sondern ein fremder Mann.

Wir fragten ihn immer wieder, ob er es noch schaffe oder wir Hilfe suchen sollten. – Unfug, das kriege er schon hin. Unsere Besuche weckten Zweifel, aber Gerd blockte: „Alles im grünen Bereich.“ Na ja, wenn er es sagt; als eingespieltes Team, wie Latsch und Bommel, kämen sie vielleicht über die Runden. Das redeten wir uns ein, ohne daran zu glauben. Mag sein, dass Gerd uns schonen wollte und seine lamentierend durchs Reihenhaus irrlichternde Gattin bisweilen nur ertrug, indem er das Hörgerät herausnahm und den Fernseher laut stellte. Jedenfalls erfährt meine Frau nun, wie es wirklich ist. Mit Heinz Rudolf Kunzes Worten: Wir haben auf Teufel komm raus verdrängt. Dann kam er, und wir wissen nicht mehr weiter.

Bestimmt haben wir etwas versäumt. Wir hätten besser vorbereitet sein müssen. Andererseits passiert das täglich Millionen Menschen. Sogar ganzen Gesellschaften. Sie lassen das Schicksal auf sich zukommen. Bis es zuschlägt. Mir fällt dazu der Altersbaum ein: Die Babyboomer setzen sich ab sofort so massiv zur Ruhe, dass alsbald, ich verzerre geringfügig, eine 29-jährige Lidl-Kassiererin das Auskommen von zwei Rentnern ermöglichen soll. Seit Menschengedenken hat man das kommen sehen. Diese Herausforderung steht dem Land präziser vorhersagbar bevor als böse Russen oder die Klimahölle. Hier haben wir übrigens mal etwas, woran die Grünen nicht schuld sind.

Schon zur Jahrtausendwende schwante mir, statt des Rentenbescheids gäbe es für meinesgleichen einen Revolver plus Patrone. Seitdem ist, die volkswirtschaftliche Altersversorgungsbasis betreffend, nur die Hoffnung auf den profitablen Export von Postkolonialismusstudien hinzugekommen. Worauf sonst sollte ich setzen? Mecklenburg-Vorpommern erwägt, seine Abiturienten nicht länger zu Mathe-Prüfungen zu verpflichten. In den meisten anderen Bundesländern könnte man die schließlich auch abwählen. Zum Glück herrscht ja kein Bedarf an Installateuren, Ingenieurinnen und Naturwissenschaftlern. Eine Masseneinwanderung junger, hoch qualifizierter Workaholics steht unmittelbar bevor. Etwas sagt mir, dass ich in 20 Jahren den aktuellen Pflegenotstand noch herbeisehnen könnte.

Es gibt Vorschläge: Rente mit 70. Der Ökonom Raffelhüschen findet, Patienten sollten die ersten 800 Euro für Arztbesuche selbst zahlen. Vielen Kliniken droht die Schließung. Von der Politik erwartet der Wähler, dass es ohne Ungeheuerlichkeiten abgeht, und die Politik antwortet: Dieses ist ein reiches Land, das beste Deutschland aller Zeiten. – Gerd wurde operiert und kommt demnächst zurück nach Hause. Dann ist alles wieder im grünen Bereich. Das gesündeste Ehepaar aller Zeiten.


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