An der Ostsee herrscht oft Wind, das mag man in den heißen Sommern der vergangenen drei, vier Jahre vergessen haben. In jüngsten kühlen Wochen aber erinnerten sich ältere Badegäste an die Gebräuche aus meiner Kindheit. Damals war es so windig, dass das Ensemble aus Stangen und langem Tuch, der sogenannte Windschutz, nur wenig schützte. Erfolgreicher war es, eine Burg zu bauen. So konnten die Strandferien auch gleich unter „aktiver Erholung“ gezählt werden – eine Formulierung, die mein Vater sehr schätzte, um uns Kinder zu gewissen Arbeiten anzuhalten.
Also wurde zunächst kreisförmig Sand um eine Fläche gehäuft, in der sich eine vierköpfige Familie mit Handtüchern und Kühltasche ausstrecken konnte. Dann musste dieser Sandwall stabilisiert werden, mit Wasser und vor allem mit angeschwemmten oder von den angrenzenden Wäldern herübergewehtem Holz. Nach einigen Stunden oder mehreren Tagen war die Strandburg fertig. Aber so sah sie verwechselbar aus. Es konnte passieren, dass man morgens das eigene Bauwerk durch andere Badegäste besetzt vorfand. Ostseefreunde haben ja ähnliche Vorlieben.
Unsere Festung brauchte Schmuck. Auch der fand sich in ausreichender Menge in unmittelbarer Umgebung oder spaziergangsfern (aktive Erholung!). Plaste- oder Glasflaschen von Sonnenschutzmitteln oder Erfrischungsgetränken, die in Ermangelung von Papierkörben oder aus Frevel weggeworfen waren, fanden an unserem wilden Holzzaun eine neue Verwendung. Grün und blau blinkten sie in der Sonne.
Und dann waren da noch die Milchschachteln. Als Kind entwickelte ich eine Leidenschaft für Tetrapacks von Milch. In der DDR gab es die praktisch nicht; die den Ost-Berlinern bekannte H-Milch wurde in Rostock, wo ich aufwuchs, nur mittwochs in der Langen Straße unter großem Andrang verkauft. Die Ostsee jedoch brachte bunte Packungen mit Kühen oder Kleeblättern, mit Eimerchen oder Blumen bedruckt, mit Schrift in vielen Sprachen zu uns an die Küste. Bald wollte ich die Milchschachteln nicht mehr auf die Stöcker spießen. Ich nahm sie mit nach Hause, sortierte sie nach Ländern und pflegte sie wie eine Briefmarkensammlung. In milchiger Hinsicht wurde ich damals polyglott. Leider hat meine Mutter irgendwann eine Ferienlagerreise von mir genutzt, die Exponate zu entsorgen. Sie kam mit dem Geruch nicht klar, den das Meer nicht ganz ausgewaschen hatte.