Vor einigen Wochen nahm ich als Panelist an der „Hijacking Memory“-Konferenz im Haus der Kulturen der Welt teil. Die Konferenz, die die Instrumentalisierung der Holocaust-Erinnerung und die Rolle der neuen Rechten thematisierte, war eine der aufregendsten und tiefgreifendsten Konferenzen, die ich bisher erlebt habe. Der Zentralrat der Juden in Deutschland reagierte auf sie jedoch mit einer vorhersehbaren Pawlow’schen Reaktion: Schnell stand der Vorwurf des Antisemitismus und der BDS-Unterstützung im Raum.
Die HKW-Konferenz ist da kein Einzelfall. In den vergangenen Jahren und Monaten passierten in Deutschland verschiedene Dinge, die den jüdisch-israelisch-deutschen Diskurs immer aufs Neue herausforderten. Der jüdische Schriftsteller Max Czollek, dessen Stimme dem konservativen Chor des Zentralrats nicht passte, wurde massiv kritisiert, weil er mütterlicherseits nicht jüdisch ist, seine jüdische Identität an sich wurde infrage gestellt.
#mustread Der Beschluss der Parlamentarier hilft im Kampf gegen Antisemitismus nicht weiter: @tazgezwitscher über den Vorwurf von 240 jüdischen & israelischen Wissenschaftler*innen an den Bundestag, sich im Kampf gegen BDS instrumentalisieren zu lassen. https://t.co/XTUuAuvHJI
— Jüdisches Museum Berlin (@jmberlin) June 6, 2019
Auch der Direktor des Jüdischen Museums Berlin Peter Schäfer, ein angesehener Judaist, musste zurücktreten – wegen der Empfehlung eines taz-Artikels durch den Twitter-Account des JMB. Der Artikel hatte sich gegen die im selben Jahr verabschiedete BDS-Resolution des Deutschen Bundestages ausgesprochen. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise in Deutschland wurden im Zentralrat gar Stimmen laut, die forderten, die Regierung solle wegen „ethnischer Schwierigkeiten“ eine Obergrenze für die Aufnahme Geflüchteter festlegen.
Momentan richtet sich diese Delegitimierungskampagne gegen einige der wichtigsten Forschungs- und Kultureinrichtungen Deutschlands und der Welt, darunter das Einstein-Forum und das Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA). Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats, bezeichnete Letzteres indirekt als Institution für Antisemitismus. So wird versucht, wichtige Institute und exzellente Forscherinnen, deren einziger Fehler darin besteht, universell ausgerichtete Forschung zu betreiben, einzuschüchtern. Wer es wagt, eine andere Meinung zu äußern, riskiert öffentlichen Rufmord.
Die Rechte prägt Positionen des Zentralrats
Israel wird derzeit von einer rechtskonservativen Ideologie bestimmt, die von Siedlern und Ultraorthodoxen sowie von xenophoben, homophoben und auch christlichen Kräften bestimmt wird. Das sind Gruppen, die jeden erdenklichen Druck ausüben, um Israel von seinem liberal-demokratischen Weg abzubringen. Sie steuern die sogenannte einzige Demokratie im Nahen Osten in einen Bereich des religiösen Fundamentalismus.
Die Aufgabe des Zentralrats der Juden in Deutschland wiederum besteht darin, alle dort lebenden Juden zu vertreten, selbst wenn er in der Praxis nur für einen Teil von ihnen spricht. Die emotionale Seite deutsch-jüdischer Geschichte und des Antisemitismus wird vom Zentralrat gewissermaßen verwaltet. Dies ist in vielerlei Hinsicht logisch und nachvollziehbar, um eine Wiederholung der schrecklichen Tragödie des Holocaust abzuwenden. Doch nur wenige verstehen die tieferliegenden Zusammenhänge: Rechte und extrem rechte Kräfte steuern Israels Politik. Und Israel prägt die Positionen des Zentralrats. Sprich, der konservative und rassistische Flügel der israelischen Rechten verwaltet indirekt Deutschlands Gefühle in Bezug auf Juden, Antisemitismus und Israel.
Wie konnte es dazu kommen? Israel hat den Antisemitismus zu einem mächtigen politischen Instrument gemacht. Unsere konservativen Regierungen haben dieses Konzept stetig erweitert. Demnach ist jede Kritik an Israel gleich Antisemitismus, jeder politische Gegner ein Feind, jeder Feind gleich Hitler und jedes Jahr 1938. Das ist gewissermaßen die Bewusstseinsinfrastruktur israelischer Politik. Deutschland spielt hier eine Schlüsselrolle: zur Absegnung des von Israelis in der Gegenwart begangenen Unrechts – wie eine Art historisch-politisches Kashrut-Zertifikat.
Deutschland wiederum fürchtet jede Konfrontation mit Israel darüber, wie zeitgenössischer Antisemitismus sich definiert und wie eine angemessene Kritik an Israels teils illegitimer Politik aussehen könnte. In seiner Untätigkeit wurde Deutschland so zum Wegbereiter einer Realität, in der Palästinenser in ihrer eigenen Heimat keine Rechte und keinen Status besitzen. Solange Deutschland derart befangen ist, wird es nie Frieden im Nahen Osten geben. Israel wird so auch nicht überlebensfähig sein.
Holocaust und Israel sind Bestandteile deutscher Identität
Der Holocaust und Israel sind entscheidende Versatzstücke der politischen und ethischen Identität Deutschlands, und sie müssen es auch bleiben. Aber eben nicht so. Der Mechanismus, der den Holocaust und die Erinnerung an ihn zu einem politischen Mittel macht, um jegliche Kritik an Israel zurückzuweisen, hat inzwischen schlicht zynische Ausmaße angenommen.
Es stimmt, kein Land dieser Erde ist perfekt. Kaum Demokratien sind ohne Probleme. Aber es gibt kein anderes Land, das sich zum demokratischen Westen zählt, welches Millionen von Menschen gegenwärtig das Recht versagt, zu wählen oder gewählt zu werden und in ihrem eigenen Land das Selbstbestimmungsrecht auszuüben – so wie Israel das mit dem palästinensischen Volk tut. Israel kann das nur deshalb so freimütig tun, weil die Vereinigten Staaten in dieser Hinsicht eine klare Linie vertreten und weil Deutschland so gut wie jede israelische Laune blindlings unterstützt.
Es gibt echten Antisemitismus in der Welt, dem wir absolut kein Verständnis entgegenbringen dürfen: Teils handelt es sich dabei um den alten, traditionellen Antisemitismus. Und teils um eine Mutation dessen, welche von bestimmten anti-israelischen Gruppen verbreitet wird: Sie nutzen das Verbrechen der Besatzung, um alle Juden als Juden anzugreifen und ihre Existenz als Individuen und als Gemeinschaft zu verleugnen.
Eine neue Form von pro-israelischem Antisemitismus
Derzeit nimmt aber auch eine dritte Form des Antisemitismus an Fahrt auf: eine, die ihre Xenophobie und ihren Hass auf Einwanderer unter dem Deckmantel glühender Unterstützung für Israel verbirgt. Es ist der Antisemitismus von Faschisten und Neonazis, die Israel „lieben“. Erstaunlicherweise unterstützen selbst einige anständige Deutsche und sogar manche Juden diesen Antisemitismus – unter dem Deckmantel ihrer Israel-Liebe.
Dabei gäbe es einen anderen Weg, den in Deutschland und weltweit brodelnden Antisemitismus zu bekämpfen. Dafür bräuchte es insgesamt mehr Überlegtheit. Ein Bewusstsein darüber, dass es zulässig ist, Israel zu kritisieren, genauso wie es zulässig ist, Israel zu verteidigen. Gleichzeitig darf der Kampf gegen realen Antisemitismus nicht länger nur ein jüdisches Problem sein.
Es müsste vielmehr eine Allianz gegen alle Arten von Hass gebildet werden – auf lokaler wie globaler Ebene. Das ließe sich etwa so formulieren: Wenn jemand Türken hasst, hasst er auch mich. Wer Muslimen schadet, schadet auch mir. Wer Einwanderer, Frauen und Vertreter:innen der LGBTQ+-Community verfolgt, verfolgt auch mich. Das ist das wahre Gesicht des Judentums, von der Bibel bis Martin Buber: eine Zivilisation, die ihre universellen Verpflichtungen gegenüber allen andern Menschen nie ignoriert hat.
Warum wir neue Allianzen brauchen
Der Kampf gegen Antisemitismus darf letztlich also nicht allein stehen. Nur durch kooperative Solidarität mit anderen Opfern von Hass können wir die populistischen Hasser besiegen. In diesem Kampf nehmen Juden und Deutsche eine strategisch sehr wichtige Rolle ein. Immerhin: Deutschland ist ein Schlüssel zur westlichen Welt. Es ist eine Schande, dass es derzeit von einem unverantwortlichen Haufen angeführt wird, der nicht in der Lage zu sein scheint, Hell von Dunkel zu unterscheiden.
Als einstiger Knesset-Sprecher und Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation appelliere ich an die deutsche Regierung – und an den Zentralrats-Präsidenten Josef Schuster: Wählen Sie einen Zeitpunkt und einen Ort, an dem wir gemeinsam darüber diskutieren können, wie dem Holocaust im 21. Jahrhundert gedacht werden kann, wie wir vermeiden können, ihn für falsche politische Zwecke zu instrumentalisieren. Und wie wir Juden und das Judentum heute repräsentieren.
Lassen Sie uns darüber diskutieren, wie wir eine Welt schaffen können, in der Israel ein Vorbild für die Lösung von Konflikten wäre – anstatt ein Vorbild für illiberale Populisten.



