Essay

Warum Holocaust und Kolonialismus Teil deutscher Vergessenskultur sind

Die derzeitigen Geschichtsdebatten sollten sich dafür öffnen, dass Deutschland Einwanderungsland ist. Das Ergebnis wäre mehr, nicht weniger Holocaust-Erinnerung

Uroš Pajović

Berlin-Ein Essay des Genozidforschers Dirk Moses, der im Mai auf dem Schweizer Portal „Geschichte der Gegenwart“ veröffentlicht wurde, erregte international Aufsehen: „Der Katechismus der Deutschen“ entfachte laufende Diskussionen über das Verhältnis des Holocaust-Gedenkens zur vergleichsweise zaghaften Erinnerungskultur gegenüber deutschen Kolonialverbrechen – bisher waren allerdings kaum Geschichtswissenschaftlerinnen mit aktueller Forschung an der Diskussion beteiligt. Die Berliner Zeitung am Wochenende begleitet diese Debatte kritisch und lässt verschiedene Stimmen zu Wort kommen.

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Jenseits der grauen, stillen Monumente deutscher Erinnerungskultur erschließen sich Spuren jüdischen Lebens nur jenen, die sich durchs grüne Dickicht kämpfen. Auf einem überwucherten Friedhof ruhen jüdische Bewohner:innen eines rheinland-pfälzischen Dorfes, wo sie einst die Mehrheit stellten, bis ihre Zahl um das Jahr 1900 rapide abnahm. Seit in Deutschland „1700 Jahre jüdisches Leben“ gefeiert werden, befindet sich sogar eine Plakette an einem Wohnhaus in der Dorfmitte, wo sich einst die Synagoge befand. Ende des 19. Jahrhunderts seien hier etliche „Menschen jüdischen Glaubens“ ausgewandert. Vielleicht besser so, sagen sich Passanten. Die Synagoge hätte es nach 1938 ohnehin nicht mehr gegeben.

Möglicherweise ist diese Fixierung auf den Holocaust als Dreh- und Angelpunkt deutscher Geschichte der Grund, weshalb man gar nicht erst meint, Auskunft darüber geben zu müssen, warum diese Bewohner:innen das Dorf lange vor 1933 verließen. Schon damals etablierte sich eine neue Art Antisemitismus. So wie Ressentiments nach 1945 nicht einfach verschwanden, kamen sie nicht aus dem Nirgendwo. 1904 wurde der letzte Grabstein des Friedhofs verlegt.

Es war dasselbe Jahr, in dem deutsche Kolonialmächte einen Völkermord an den Herero und Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika im heutigen Namibia begingen. Aus Sicht der historischen Rassismus- und Antisemitismusforschung ist diese Gleichzeitigkeit kein Zufall. Ideologien, die sich darauf gründen, dass es sich bei bestimmten Menschentypen um minderwertige „Rassen“ handelte, sind eine der Voraussetzungen für Genozide.

Die Gegend ist nun fast unmerklich gezeichnet von materieller Kultur, die sich kaum im deutschen Geschichtskanon wiederfindet. Auch die Spuren von Generationen Schwarzer Menschen finden sich hier überall, und dennoch jenseits des historischen Kanons, wieder. Später nannte man sie abwertend „Rheinlandbastarde“ oder „Mischprodukte“. Der Rassenhygieniker Eugen Fischer ließ sie in der Nazizeit zwangssterilisieren. Rassismus und Antisemitismus waren auch damals bereits – trotz ihrer wichtigen Unterschiede – eng miteinander verwoben. Beide speisten sich aus je spezifischen, über Jahrhunderte tradierten Projektionen, die von pseudowissenschaftlicher Theorie befeuert wurden.

Rassistisches Wissen als Grundlage

Antisemitische und rassistische Ressentiments um 1900 bereiteten den Nährboden für das, was im 20. Jahrhundert nachfolgte. Sie wurden in Forschungseinrichtungen und Museen untermauert. Im Zuge der Diskussion um das Humboldt-Forum wurde viel über die Rolle der Ethnologie gesprochen. Weniger bekannt ist etwa die Beteiligung der antiken Sammlungen auf der gegenüberliegenden Museumsinsel. Auch sie stammen teils aus Afrika, nur wurden hier alte Ägypter zu weißen Vorfahren der Europäer:innen stilisiert, die den Zenit einer Entwicklung darstellten. Um derartige Narrative zu brechen, müssten Museen sie genauso ausstellen wie die Objekte selbst. Jene Ägypter:innen, die die Funde im 19. Jahrhundert ausgegraben hatten – Schädel dienten Eugenikern als Forschungsobjekte –, kamen in diesen musealen Konzept nicht vor.

Andere versuchten anhand pseudowissenschaftlicher Theorien, Jüdinnen und Juden „semitische“ Merkmale zuzuschreiben. Etliche jüdische Museumsmitarbeiter:innen wurden von den Nazis später in die Emigration oder in den Tod getrieben. Das Bode-Museum wurde dennoch 2006 wissentlich nach einem bekennenden Antisemiten benannt. Auch im Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik auf dem heutigen Gelände der Freien Universität waren Rassismus und Antisemitismus verzahnt. Hier forschte Fischer ab 1927. Er hatte seine Laufbahn mit rassentheoretischen Untersuchungen in den damaligen deutschen Kolonien begonnen. Später ging er dazu über, sterbliche Überreste aus Auschwitz zu erforschen. Allein die Tatsache, dass heute unklar ist, woher die jüngst auf dem ehemaligen Grundstück des Instituts ausgegrabenen Knochenfunde stammen, sagt einiges über die physische und geistige Nähe zwischen Kaiserreich und der Nazizeit aus. Nötig wäre es, diese ideologischen Zusammenhänge, anstatt sie zu tabuisieren oder zu hierarchisieren, besser zu verstehen.

Wir haben keinen neuen Historiker(innen)streit

In akademischen Kontexten muten solche Thesen kaum kontrovers, aktivistisch oder „postkolonial“ an, wie sie nicht erst infolge des Essays von Dirk Moses seitens der deutschsprachigen Feuilletons gerne bezeichnet werden. Von vielen Historiker:innen im In- und Ausland wird die deutsche Debatte über Erinnerungskultur deshalb mit Verwunderung beobachtet.

Hysterisch, reduktionistisch und wissenschaftlich längst überholt sei sie. Doch wie kann man dieser Geschichte im postmigrantischen Deutschland begegnen, auch als Mittel von Gewaltprävention? Wie ist der Holocaust im Kontext globalgeschichtlicher Ansätze zu verorten? Die mediale Verbotspolitik führt zu grotesken Situationen und läuft wissenschaftlichen Methoden zuwider: Kein historisches Ereignis steht im luftleeren Raum. Um die nun ins Zentrum gerückte Singularität zu bestimmen, bedarf es des nun in Verruf geratenen Vergleichs. Die Frage der Singularität wurde übrigens schon vor Jahrzehnten diskutiert, damals aber durch die sinnvollere Frage geleitet, was genau die Spezifika des Holocaust waren. 

Ohnehin sind denkbar wenige Historiker:innen an diesem Streit beteiligt. Weshalb wurde der Debatte dann das Label „Historikerstreit 2.0“ oktroyiert? Auch dem Historikerstreit der 80er-Jahre wurde diese Bezeichnung im Übrigen immer wieder streitig gemacht. Von einer zu engen Verquickung von Geschichtspolitik mit wissenschaftlichen Erkenntnissen war damals die Rede. Eigentlich, so die Kritik, ging es um machtpolitische Deutungshoheit. Inwiefern lässt sich die heutige Geschichtsschreibung für politische Ziele instrumentalisieren?

Wenige werden sich erinnern, dass es auch einmal einen Historikerinnenstreit gab, in dem es um die Beteiligung von Frauen an den NS-Verbrechen ging. Dass dieser Streit nicht als Referenz für die heutige Debatte dient, ist insofern berechtigt, als dass diese fast ausschließlich männlich ist. Für Frauen, die seit Corona ohnehin am Limit sind, ist die Reichweite geringer. Das Risiko, zur Zielscheibe zu werden, hingegen ist um einiges höher – ein Problem bei befristeten Verträgen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass vor allem die Stimmen jüdischer, nicht-weißer, queerer Autor:innen oder jener mit Behinderung in ihrer politischen Bandbreite fehlen, obwohl diese in den Debatten zu Holocaust und Kolonialgeschichte besonders wichtig wären. Daran schließt die Frage an, wer in der nach wie vor zu homogenen deutschen Wissenschafts- und Debattenlandschaft überhaupt Zugang erhält, Geschichte zu schreiben. Ein Effekt des aufgeheizten Debattenklimas ist, dass die ohnehin mangelnde Vielfalt zusätzlich eingedämmt wird. Beweisen lässt sich dies – so haben es stille Kontrollmechanismen nun mal an sich – mitnichten.

Der Auffassung sein zu können, es gäbe uneingeschränkte Meinungsfreiheit, zeugt von Privilegien und Blindheit, die strukturelle Barrieren nicht sieht. Doch welches Bild einer Debattenkultur zeichnet sich hier ab, wenn noch immer nicht alle mitreden, weil sie Bedrohung und Verleumdung fürchten? Hat sich Erinnerungskultur gewissermaßen invertiert, wenn am Ende herauskommt, dass das freie Reden über sie zur Ausgrenzung jener führt, die bereits damals marginalisiert waren?

In dieser gleichermaßen deprimierenden wie grotesken Zwickmühle werden derzeit wichtige Chancen vertan. Denn eine global ausgerichtete Holocaustforschung böte immenses Potenzial für die deutsche Erinnerungslandschaft, die immer komplexer wird. Gleichwohl finden diese Diskussionen vor allem im Ausland statt. 2019 diskutierte etwa die Oxforder Historikerin Yasmin Khan auf einer Podiumsdiskussion in London die britische Befreiung Europas vom Nationalsozialismus, die durch die gleichzeitige Ausbeutung britischer Kolonien überhaupt erst wirtschaftlich und militärisch ermöglicht wurde. Die australische Holocaustforscherin Avril Alba fragte, wie Michael Rothberg und andere es für Nordamerika taten, wie man des Holocausts in Territorien gedenken kann, die selbst von Massenmorden und Enteignung der indigenen Bevölkerung gezeichnet sind.

Auch Deutschland muss für verflechtungsgeschichtliche Fragen gewappnet werden, die in Zukunft immer mehr an Relevanz gewinnen. Wie können Opfergruppen zusammenarbeiten, deren Geschichten verwoben sind? Wie sind im Kontext der aktuellen Restitutionsvorhaben der von Jüdinnen und Juden enteigneten Museumsobjekte solche zu restituieren, die aus kolonialen Kontexten stammen? Relativierend ist das auch deshalb nicht, da am Ende meistens mehr, nicht weniger Opfer stehen; da es mehr Fragen gibt, die die Grauen des Holocaust in einer globalen Komplexität zeigen. Geschichtsforschung lebt davon, Lücken des Ungesagten zu füllen und neue aufklaffen zu lassen. In einem Land, in dem der Holocaust zu Recht eine zentrale Rolle einnimmt, sollte es um seine konzise und holistische Aufarbeitung gehen – nicht um deren Eindämmung.

Das Erinnern ist oftmals sehr weiß

„Wer ist Teil dieser Länder, aber nicht ihrer Erzählungen? Wen bestärken und wen verdrängen sie?“, schreibt die Schriftstellerin Asal Dardan. Ist der Widerstand gegen aktuelle Forschungskontexte gar eine Voraussetzung für die gegenwärtige Debatte? Ihr liegt ein homogenes Geschichtsbild zugrunde, das mit fixen Kategorien operiert, die es so nie gab. Das weiße Deutschland, das oft vorausgesetzt wird, ist ein Konstrukt. Dieses Land ist schon lange multikulturell, mehrsprachig, multireligiös. Durch die mitteleuropäische Lage war Migration schon lange eher die Regel. Bindestrich-Identitäten sind heute eine Realität. Doch so, wie sich Wissenschaftler im 19. Jahrhundert einmal ausdachten, wie bestimmte Menschentypen auszusehen haben, gibt es noch heute ein bestimmtes Bild dessen, was Deutschsein konstituiert.

Geschichte verwehrt sich eindeutigen Kategorien. Ein monolithisches Geschichtsbild läuft auch einer zukunftsfähigen Erinnerungskultur zuwider, denn es gibt darin kaum Platz für Menschen mit multiplen und migrantischen Zugehörigkeiten. Auch lassen sich nicht alle problemlos in Täter:innen, Befreier:innen und Opfer einteilen. Muslimische Menschen finden sich in allen Gruppen wieder. Jüdinnen und Juden sind im deutschen Masternarrativ vor allem Opfer, selten Sieger:innen – sowie meistens weiß, fast nie Schwarz oder gar arabisch und iranisch.

Manche von ihnen sehen sich heute eher als Befreier:innen, wenn ihre Vorfahren etwa für die Sowjets kämpften. Schwarze Menschen kämpften für Truppen der Alliierten. Andere wurden zu vergessenen Opfern der Rassenpolitik der Nazis: Erst kürzlich wurden die ersten Stolpersteine für Schwarze NS-Opfer verlegt. Wenn angeführt wird, man könne Menschen ohne langjährige Familiengeschichte in Deutschland nicht mit deutscher Schuld behelligen, so beruht dies auf Vorurteilen und einem restriktiven Geschichtsbild. Es verschenkt das Potenzial, globale Erfahrungswelten geltend zu machen, die nicht nur die eigene Diskriminierung, sondern auch das Reflektieren über familiäre Täterschaft beinhalten könnten. Die Herausforderung besteht nicht darin, dass es keine Bezugspunkte zur deutschen Geschichte gäbe, sondern dass sich diese komplexer gestalten, als es der nationale Diskurs derzeit vorgibt.

Der Rassismus des langen 20. Jahrhunderts

Als sich der Attentäter von Halle im Jahr 2019 Opfer suchte, die er irrtümlich für muslimisch hielt, nachdem es ihm nicht gelungen war, in die Synagoge einzudringen, führte dies vor Augen, dass auch Hass in Deutschland intersektional funktioniert. Nicht erst seither gibt es Bündnisse zwischen jüdischen, muslimischen und Schwarzen Gruppierungen, an die Sharon Dodua Otoo in ihrer Klagenfurter Rede 2020 erinnerte. Glücklicherweise wird in letzter Zeit immer wieder ergänzend darauf hingewiesen, dass sich Menschen wie die Holocaustüberlebende Esther Bejarano stets mit diskriminierten Opfergruppen solidarisierte.

Geschichte ist dann relevant, wenn Menschen sich zu ihr über Zugehörigkeit und Empathie in Relation setzen können. In manchen Museen im Ausland werden längst nicht nur Sklavenhandel, kolonialer Rassismus und Nazizeit in Verbindung gebracht, sondern auch die notwendige antirassistische Aufklärungsarbeit und der Aktualitätsbezug mitgeliefert. Museen sind auch heute noch kolonialen Strukturen verhaftet, solange ehemals Kolonisierte in den vom westlichen Imperialismus gezeichneten Ländern neben Restitutionsobjekten noch dringender auf Impfstoff und Visa warten – und für einen Besuch im „Universalmuseum“ im Schlauchboot Meere überqueren müssen.

Singularität suggeriert, dass etwas abgeschlossen ist. Vielleicht ist es das, was die derzeitige Debatte für viele so schwierig macht. Die Einsicht, dass von der Rassenideologie des 19. Jahrhundert bis hin zu den NSU-Morden, jüngsten Anschlägen und neuen Ausgrenzungsmechanismen trotz bemühter Entnazifizierung und Aufarbeitung doch irgendwie eine Linie verlaufen könnte.

Das fortwährende Ideal ethnischer Homogenität ist nach wie vor tief in das deutsche Selbstverständnis eingeschrieben. Nicht jede Stimme wiegt gleich. Nicht jede wird gehört. Nicht jede wird gleichermaßen zur Zielscheibe. Vielfalt ist fragil, man muss sie sich erkämpfen, schützen und bewahren. Wessen Erinnerung wird vergessen? Welches Geschichtsbild liegt Erinnerungskultur zugrunde? Und warum ist dieses ausgerechnet jenen historischen Kategorien verhaftet, die es abzustreifen galt?

Wenn sich Geschichte in ihrer Komplexität, in ihren Uferlosigkeiten und Widersprüchen zeigt, die diasporische, migrantische und globale Verflechtungen einschließen, dreht sich Erinnerungskultur nicht mehr nur um sich selbst. Sondern auch um diejenigen, für die die Folgen dieser historischen Ereignisse bis heute spürbar sind. Das Ergebnis wäre für alle mehr, nicht weniger Erinnerung an den Holocaust.

Dr. Mirjam Brusius ist Research Fellow in Colonial and Global History am Deutschen Historischen Institut London.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.