Was für eine vertane Chance: Wer dachte, mit Meron Mendels Beraterfunktion für die Documenta 15 könne nach Monaten der Kritik von verschiedenen Seiten von außen und eklatanter Kommunikations- und Organisationsfehler von innen etwas analytische Ruhe einkehren, dem musste dies wie ein weiterer Schritt einer stetigen Abwärtsspirale erscheinen. Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, der vor knapp zweieinhalb Wochen als externer Berater einberufen worden war, erklärte seine Funktion nun gestern für beendet.
Im Gespräch mit der Berliner Zeitung begründete Mendel seine Entscheidung mit einer „absurden Situation“. Er habe die Beraterrolle mit einer „leisen Hoffnung“ angetreten, noch was retten zu können. Auch aus einer gefühlten Verpflichtung gegenüber Ausstellenden, die, wie er betonte, „Besseres verdient haben“. Anfragen seinerseits seien von der Documenta-Leitung jedoch ignoriert worden oder lange unbeantwortet geblieben. Er hätte über zwei Wochen gewartet, bis ihm letztlich lediglich eine halbe Din-A4-Seite eines sehr rudimentären Plans vorgelegt worden sei. Da sei „viel Nebel“ gewesen, sagte Mendel, „nichts Konkretes.“
Dies habe es voreingenommenen Kritikern der Documenta 15 dann auch leicht gemacht, die Ausstellung als von Beginn an antisemitische Veranstaltung zu zeichnen. „Dieses Nichtstun und In-die-Länge-Ziehen ist das Beste, was denen passieren konnte, die diese Documenta von Anfang an diskreditieren wollen“, so Mendel, „hier wurde ein Eigentor nach dem nächsten geschossen.“
Bei einer Podiumsdiskussion war Ruangrupa nicht eingeladen
Vor knapp über einer Woche fand in Kassel eine Podiumsdiskussion statt, zu der Mendel selbst angeregt hatte. Die Politik-Professorin Nikita Dhawan, der ehemalige Documenta-Kurator Adam Szymczyk, der Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden Doron Kiesel, die Künstlerische Direktorin im Vorstand der Kulturstiftung des Bundes Hortensia Völckers und Mendel selbst diskutierten über Antisemitismus in der Kunst und über Grenzen und Möglichkeiten des Dialogs. Das Gespräch folgte auf langwierige Auseinandersetzungen über faktischen und vermeintlichen Antisemitismus und die Frage, ob es auf dieser Documenta so etwas wie einen „stillen Boykott“ gegenüber jüdischen oder israelischen Künstlerinnen und Künstlern gegeben habe.
Auffälligerweise war auf dem Podium kein Mitglied des Kurator:innen-Teams Ruangrupa vertreten. Aus dem Publikum meldete sich vorab ein Vertreter des Kollektivs, um festzuhalten, dass Ruangrupa vor Ort sei, um zu lernen. Die Leitung, so Mendel, habe die Teilnahme Ruangrupas verhindern wollen. Warum, könne er sich nicht erklären. Er habe der Leitung im Vorfeld mehrmals zu vermitteln versucht, dass die Bedingung einer solchen Veranstaltung die Möglichkeit sei, dass Ruangrupa eingebunden ist. Dennoch hätte das Kollektiv von der Veranstaltung nicht von der Leitung, sondern aus der Presse erfahren. „Sie haben eine neokoloniale Haltung gegenüber Ruangrupa“, sagte Mendel.
Jetzt zog auch Hito Steyerl ihr Kunstwerk zurück
Nach Mendels Rückzug hatte jüngst auch die Videokünstlerin Hito Steyerl angekündigt, ihr Kunstwerk entfernen zu lassen. In einer Mail an das Documenta-Team und Sabine Schormann bat sie laut Spiegel-Angaben das Produktionsteam, ihre Arbeit abzubauen. Steyerl warf der Documenta-Leitung vor, keine Verantwortung für das Zeigen antisemitischer Inhalte übernommen zu haben, und benannte eine „faktische Weigerung“ der Zuständigen, Vermittlungsangebote zu akzeptieren. Auf Rückfrage ließ Steyerl die Berliner Zeitung wissen, sie habe hierzu bereits alles Nötige gesagt.
Ob dies nun womöglich den Sargnagel der Documenta 15 bedeutet, wie manche befürchten? Mendel sagt, er hoffe, dass das nicht so ist. Er habe Hito Steyerl abgeraten, ihr Werk abzuziehen. „Ich will nicht der Zerstörer der Documenta sein“, betont Mendel, „sondern eher Motivation generieren, das Thema endlich richtig anzugehen.“
Documenta-Desaster wird instrumentalisiert
Auch der Bundestagsausschuss für Kultur und Medien befasste sich am Mittwochnachmittag mit den Antisemitismus-Vorwürfen. Neben Vertreterinnen politischer Parteien kamen dafür unter anderem Kulturstaatsministerin Claudia Roth, der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland Daniel Botmann sowie der Ruangrupa-Sprecher Ade Darmawan zusammen. Sabine Schormann hatte aus gesundheitlichen Gründen abgesagt.
Daniel Botmann erklärte bei dem Treffen, in der deutschen Kulturlandschaft stünde jetzt ein „Selbstreinigungsprozess“ an. Dem BDS-Beschluss des Bundestags müsse endlich Folge geleistet werden. Gerade beim HKW gebe es Anlass, „genauer hinzuschauen“. Botmann kritisierte insbesondere die HKW-Konferenz „Hijacking Memory“, wo antisemitische Inhalte formuliert worden seien. Das Zentrum für Antisemitismusforschung sei in jüdischen Kreisen außerdem als Zentrum bekannt, wo das Wort „Forschung“ bisweilen wegfalle, so Botmann.
Bei derartigen Aussagen, kommentierte Mendel, entstehe für ihn der Eindruck, dass Sachen zusammengewürfelt würden, die nicht zusammengehören. Er sei schockiert gewesen, dass Botmann die Veranstaltung als Bühne nutze, um Mitarbeiter wissenschaftlicher Einrichtungen pauschal als Antisemiten zu diffamieren. „Mich hat besonders erschrocken, dass niemand Botmann widersprochen hat. Wir reden ja die ganze Zeit über Kunstfreiheit. Es gibt aber auch so etwas wie Freiheit der Wissenschaft. Wenn Vertreter solcher Einrichtungen fälschlicherweise als Antisemiten dargestellt werden, liegt der Verdacht nahe, dass auch wissenschaftliche Studien so gemacht werden, dass sie Vorstellungen des Zentralrats entsprechen.“ Natürlich könne man eine Konferenz kritisieren, aber es müsse dann eben eine Kritik an Inhalten sein. Nicht eine pauschale Diffamierung der – auch jüdischen – Teilnehmer.
AfD-Antrag gegen Postkolonialismus
Die AfD forderte in einem inzwischen abgelehnten Antrag, der Deutsche Bundestag müsse „die Förderung des Postkolonialismus umgehend einstellen“. In eklatanter Verkennung der Forschung hieß es in dem Antrag, Postkolonialismus sei „inhärent antisemitisch“. Die CDU/CSU forderte in einem ähnlichen Antrag, die Bundesregierung müsse den BDS-Beschluss von 2019 nun „aktiv umsetzen“. In Berufung auf jenen Beschluss wurden in vergangenen Jahren palästinensischen und jüdisch-israelischen Personen teils Gelder und Räume entzogen.





