Es hatte etwas von einem Tribunal: Der Bundestagsausschuss für Kultur und Medien befasste sich am Mittwochnachmittag über knapp drei Stunden mit der seit Monaten wegen Antisemitismusvorwürfen breit diskutierten Kunstausstellung Documenta 15. Das indonesische Kollektiv Ruangrupa, das die Ausstellung kuratiert, und das palästinensische Kollektiv The Question of Funding sollten angeblich BDS und – so wurde über Monate pauschalisierend abgeleitet – Antisemitismus nahestehen.
Die Diskussion verschärfte sich schlagartig, als am Eröffnungswochenende die meterhohe Banner-Installation „People’s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi enthüllt wurde, auf der tatsächlich ein klar antisemitisches Bild zu sehen war: eine stürmeresk anmutende Darstellung eines orthodoxen Juden als monströs entstellte Figur.
Neben Kulturstaatsministerin Claudia Roth waren für das Gespräch im Bundestag nun auch der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, Daniel Botmann, der Sprecher des Kollektivs Ruangrupa, Ade Darmawan, die hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn, sowie Claudia Roths Amtschef Andreas Görgen geladen. Sabine Schormann, die Documenta-Generaldirektorin, die ebenfalls erwartet worden war, hatte aus gesundheitlichen Gründen abgesagt. Auch der Kasseler Oberbürgermeister war verhindert. Zudem waren Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Parteien geladen.
Claudia Roth: „Grenzen wurden überschritten“
Kulturstaatsministerin Roth eröffnete die Runde mit klaren Worten. Sie betonte, dass die antisemitische Karikatur in Taring Padis Banner Jüdinnen und Juden weltweit entsetzt habe. Man habe es somit nicht nur mit einem Versagen in der Planung und Durchführung der Documenta selbst zu tun, sondern auch mit einem „Wortbruch“. Roth sei im Vorfeld versichert worden, dass für Antisemitismus auf der Documenta 15 kein Platz sei. „Ich werde die Freiheit der Kunst weiter verteidigen“, sagte sie, „aber in diesem Fall wurden Grenzen klar überschritten.“ Die Lücken der kuratorischen Arbeit vor Ort hätten in ihren Augen vor allem mit „unklaren Strukturen“ und „diffusen Verabredungen“ zu tun.
Die Documenta sei der Stolz Kassels und ganz Deutschlands. Damit dies so bleibe, stünde die Ausstellung jetzt vor der Aufgabe, sich zu erneuern. „Was wir auf dem Bild von Taring Padi gesehen haben, ist eine typische europäische Bildsprache, die von Nazis in die Welt getragen wurde und nun über diesen Umweg zu uns zurückkommt“, erklärte Roth. Darin schienen sich ähnliche Erklärungsversuche zu spiegeln, wie sie jüngst vom amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Rothberg eingebracht worden waren.
„Wegen der Schoah hat das zentral mit uns zu tun.“ Die Antwort auf die Debatte könne nicht lauten, dass man die Augen verschließe, wenn es um Antisemitismus in anderen Ländern und Kontexten gehe. Allerdings auch nicht vor den rassistischen Untertönen, wie sie zeitweise gegenüber Künstlerinnen oder Kuratoren in Kassel zu beobachten waren und wo so getan wurde, „als seien Menschen aus dem sogenannten globalen Süden quasi von Natur aus antisemitisch.“
Daniel Botmann: „Unsere Bedenken wurden glattgebügelt“
Der ZdJ-Geschäftsführer Daniel Botmann kritisierte die Documenta scharf. „Unsere Bedenken wurden von Anfang an beschwichtigt, glattgebügelt“, sagte Botmann. Er berichtete, wie bei Gesprächen zwischen Zentralrat und Frau Roth im Vorfeld abgemacht worden sei, dass ein Gremium einberufen werde, das sich mit Antisemitismus beschäftigt. Gegen Letzteres habe die Documenta-Leitung sich jedoch verwehrt.
Botmann kritisierte in diesem Kontext insbesondere Frau Schormann: „Dass sie noch im Amt ist, ist eine Zumutung.“ Schormann, sagte er, habe sich geweigert, im Kontext der Documenta die IHRA-Definition anzuwenden. Bei der IHRA-Definition des Antisemitismus handelt es sich um in Deutschland anerkannte, wissenschaftlich jedoch umstrittene Arbeitsdefinition, durch deren großzügige Ausweitung dessen, was unter israelbezogenen Antisemitismus fällt, oft auch Akteure der palästinensischen und jüdisch-israelischen Zivilgesellschaft als „antisemitisch“ ausgewiesen werden.
Botmann kritisierte zudem, dass Antisemitismus im Kontext der letztlich abgesagten Gesprächsreihe „We need to talk“ nicht mehr im Vordergrund gestanden habe. Das antisemitische Bild im Taring-Padi-Gemälde bestätige für ihn ein Grundgefühl: Wo BDS Einfluss im Kulturbereich habe, sei Antisemitismus nicht weit. Als Beleg dafür nannte Botmann die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, die sich für eine für offenere Diskussionskultur und gegen den BDS-Beschluss des Bundestags von 2019 ausspricht. Botmann sprach auch über die jüngst abgehaltene HKW-Konferenz „Highjacking Memory“: Es handle sich dabei um einen Versuch, „Ängste in Deutschland lebender Juden lächerlich zu machen.“ Auf der Konferenz seien antisemitische Inhalte formuliert worden, es sei zu Schoah-Relativierung gekommen. Was Botmann nicht erwähnte: Ein Großteil der Panelisten jener Konferenz waren jüdisch.
Für die Zukunft stelle sich die Frage, wo in der deutschen Kulturlandschaft Personen unterwegs seien, die BDS unterstützten. Ein „Selbstreinigungsprozess“ sei hier wichtig. Die letzten Wochen hätten gezeigt, wie wichtig der BDS-Beschluss des Bundestags sei. Dem müsse jetzt Folge geleistet werden. Gerade beim HKW gebe es Anlass, „genauer hinzuschauen“. Was Botmann damit genau meinte, ließ er offen.
Ade Darmawan: „Es gab keinen stillen Boykott“
Der Ruangrupa-Sprecher Ade Darmawan betonte indes, dass er sich für den Schmerz und die Angst, die die antisemitischen Elemente in Taring Padis Banner hervorgerufen hatten, ausdrücklich entschuldige. Gleichzeitig versuchte er, die verstörenden Bilder einzubetten: „Für uns als Kollektiv ist es sehr wichtig, den historischen Kontext von Indonesien zu erzählen.“ Zu jenem Kontext gehöre für Darmawan auch das, was das Werk darzustellen versuche: Nämlich, dass westliche Mächte die Gewalt des indonesischen Machthabers Suharto unterstützten, der bis zu eine Million Menschen ermordete. Teil der Logik staatlicher Gewalt sei es gewesen, nicht-weiße Gruppen gegeneinander ausspielen. Hierfür seien von europäischen Kräften etwa antisemitische Stereotype über Juden auf chinesische Minderheiten im Land übertragen worden. All dies erfordere jetzt eine differenziertere Betrachtung.
Zudem wies Darmawan darauf hin, dass es neben den begründeten auch zahlreiche unbegründete Vorwürfe gegen Ruangrupa und andere Kollektive gegeben habe. Eine Stimmung des Verdachts, des Ausschlusses und der Zensur sei das Resultat gewesen. „Die Anschuldigungen gegen uns sind falsch“, sagte Darmawan. Er betonte – entgegen einer von Botmann getroffenen Aussage, die in den letzten Wochen auch in den Medien öfters geäußert wurde –, dass es einen „stillen Boykott“ gegenüber Israelis oder jüdischen Künstler:innen nicht gegeben habe. „Die Documenta 15 zeigt israelische und jüdische Künstler“, betonte Darmawan, „wir wählen Künstler nicht nach nationalen Kriterien.“
Ruangrupa sei es von Anfang an um Meinungsfreiheit gegangen. „Wir verstehen, dass Meinungsfreiheit sich nicht auf Dinge erstreckt, die beleidigend oder hetzerisch sind.“ Darmawan wies darauf hin, dass er hoffe, das Potenzial des „Lumbung“-Prinzips in den nächsten Monaten weiter ausschöpfen können. Es handelt sich um ein Prinzip, das Fragen des Teilens, des Zusammenlebens und kollektiven Arbeitens in den Mittelpunkt stellt.
Angela Dorn: „Ich will, dass nicht noch mehr kaputtgeht“
Angela Dorn betonte in ihrem Statement, dass das schnelle Abhängen des Bildes „People’s Justice“ von Taring Padi ein notwendiger Schritt gewesen sei. Die Frage, wie es dazu erst kommen konnte, müsse jetzt geklärt werden. Das erste Statement von Taring Padi, das das abgehängte Kunstwerk als ein „Denkmal der Trauer“ bezeichnete und von einem verunmöglichten Dialog sprach, sei wie ein zweiter „Angriff“ gewesen, sagte Dorn. Gleichzeitig unterstrich sie die große Herausforderung, die künstlerische Leitung der Documenta 15 in diesem Jahr erstmals einem Kollektiv anzuvertrauen. „Wir müssen die Frage stellen, ob wir die Herausforderung nicht ausreichend gesehen haben.“
Es sei allgemein wichtig, deutlich zu machen, dass Kunstfreiheit endet, wo die Menschenwürde verletzt wird. „Ich will, dass die Documenta eine herausragende Veranstaltung bleibt, und will mich weiter dafür einsetzen, dass nicht noch mehr kaputtgeht.“
Fragerunde: CDU, Grüne, Linke, FDP und AfD
Gitta Gonnemann von der CDU/CSU-Fraktion fragte im Anschluss, mit wem Roth im Vorfeld genau gesprochen hatte. Zudem fragte sie nach dem Werk „Guernica Gaza“ des palästinensischen Künstlers Mohammed Al Hawajri, das im Zuge der Debatte jetzt ebenfalls in der Kritik steht. Roth antwortete, dass die Frage, ob es weitere Exponate mit antisemitischen Inhalten gebe, eine „im Kern kuratorische“ sei. Nachdem im Januar 2022 erste überregionale Texte zu dem Thema erschienen waren, habe sie sich mit internationalen Experten beraten – darunter auch aus Israel und den USA.
Helge Lindh von der SPD wies darauf hin, dass man es sich in der Debatte auch zu einfach mache, wenn man die Documenta schlicht als „Ursprung des Antisemitismus“ zeichne oder sie einfach auf BDS reduziere. Awet Tesfaiesus von Bündnis 90/Die Grünen sprach Ruangrupa als einzige anwesende Politikerin ihren Dank aus, dass sie sich als Kollektiv der schwierigen Aufgabe der Kuration der Documenta 15 stellten. Zugleich betonte sie, dass auch in ihren Augen „eine rote Linie überschritten“ worden sei. Sie fragte Darmawan, ob er sich im Prozess der letzten Monate gut begleitet gefühlt habe. Formell, antwortete er, habe es keine gute Begleitung gegeben. „Informell wurden wir sehr gut über die deutsche Geschichte und Hintergründe informiert.“
Jan Korte von der Partei Die Linke sagte, es sei die wohl „größte Lüge der Bundesrepublik“, dass mit der Geschichte des Antisemitismus aufgeräumt wurde. „Was ist mit Haftmann? Warum gibt es auf der Website [der Documenta 15] keine Informationen dazu? Wenn wir uns damit nicht auch auseinandersetzen, ist das hier nur parteipolitisches Geschwätz.“ Korte plädierte – auch mit Blick auf die jüngste Relativierung von Antisemitismus durch den ukrainischen Noch-Botschafter Melnyk – dafür, in der Debatte die Maßstäbe nicht aus den Augen zu verlieren.
Marc Jongen von der AfD berief sich in seiner Frage auf das sogenannte Bündnis gegen Antisemitismus Kassel, das „von Anfang an darauf hingewiesen“ habe. Man müsse jetzt viele weitere Kunstwerke in den Blick nehmen, so Jongen. Das Problem sei klar, nämlich dass „der postkolonialen Theorie“ der „Antisemitismus inhärent ist“. Der Postkolonialismus dürfe nicht Maßstab von Erinnerungskultur werden. „Frau Roth“, fragte Jongen, „sind Sie bereit, die Förderung an Postkolonialismus aufzugeben?“
Claudia Roth warf Jongen in ihrer Antwort vor, selektiv zu zitieren. „Ich habe von Anfang an gesagt, dass die Grenze Antisemitismus und Rassismus ist.“ Natürlich würde man sich auch in Zukunft mit Fragen der Dekolonisierung auseinandersetzen. Die Rückgabe der Benin-Bronzen sei dafür ein erster Schritt.





