Architektur

Die Brückenbauerin: Wie eine junge Berlinerin Architektur als Weltverbesserungstool nutzt

Die Berlinerin Franziska Gödicke, 24, ist die jüngste Architektin im deutschen Kurationsteam der Venedig-Biennale. Was treibt sie an? Und was hat das mit der DDR zu tun?

Die Berliner Architektin Franziska Gödicke hat den Deutschen Pavillon in Venedig mitentworfen
Die Berliner Architektin Franziska Gödicke hat den Deutschen Pavillon in Venedig mitentworfenPeter Oliver Wolff

Was macht eine Architektin? Am liebsten im Büro sitzen, einen spektakulären Entwurf zeichnen, der dann auf die grüne Wiese gestellt wird und allen zeigt, wie brillant die Architektin ist? Franziska Gödicke, Absolventin der Bauhaus-Universität in Weimar, tut das Gegenteil: Detektivisch zu arbeiten und Brücken zu bauen, das sieht sie im Zentrum ihrer Arbeit – und mit Brücken sind hier vor allem Brücken zwischen Menschen gemeint. Bedeutet praktisch: Vor allem Verbindungen zu Ort und Community suchen, zuhören; und wenn dann gebaut wird, behutsam sein und, wo immer möglich, mit schon bestehenden Gebäuden arbeiten.

Eine Architektin, die nur widerwillig baut? Franziska Gödicke drückt es so aus: „Ich sehe es als Aufgabe meiner, der jungen Generation, dass man kritisch ist und radikal und Dinge verändert, eben weil man (noch?) Optimismus hat. Was ist auch die Alternative? Denn sonst wird es sehr bitter, wenn man den aufgibt.“

Bitter wirkt sie dabei überhaupt nicht. Es gebe ein sehr bekanntes Projekt vom Architekturbüro Lacaton & Vasall, erklärt sie mit diebischer Freude. „Statt den Place Léon Aucoc in Bordeaux umzugestalten, wie es ihr Auftrag war, haben sie gesagt: Eigentlich ist der Platz perfekt, wir wollen nur den Schotter ändern, damit hier besser Boule gespielt werden kann. Man kann als Architekt also auch sagen: Das Beste, was man hier machen kann, ist nichts.“

Gödicke ist schnell. Sie denkt schnell, sie spricht schnell, sie ist keine zwei Jahre nach Ende ihres Architekturstudiums Mitkuratorin des deutschen Pavillons auf der Architekturbiennale in Venedig, die dort dieses Jahr zum 18. Mal stattfindet, vom 20. Mai bis zum 26. November. Immerhin eine der prestigeträchtigsten Ausstellungen der Welt für Architektur. Wenn Gödicke, die 24-jährige Berlinerin, davon erzählt, wirkt ihr Weg nach Venedig gar nicht weit. Als Redakteurin der Berliner Architekturzeitschrift ARCH+ hat sich die Mitarbeit im Kurationsteam eher so ergeben, so scheint es in ihrer Erzählung, weil sie sich ohnehin mit den Themen beschäftigt hat, die nun wichtig sind auf der Biennale Architettura. „Labore der Zukunft“, so lautet das Motto der diesjährigen Ausstellungen.

Der Deutsche Pavillon auf der Architekturbiennale als Materialdepot
Der Deutsche Pavillon auf der Architekturbiennale als MaterialdepotARCH+ SUMMACUMFEMMER BUERO JULIA GREB

Bedarf an Experimenten, um Lösungen für die Zukunft zu finden, gibt es viele in der Architektur. Die Preise für Baumaterialien wie Glas, Stahl und Beton sind 2022 noch einmal gestiegen, wie das Statistische Bundesamt feststellt. In Städten wie Berlin kommt ein Platzproblem dazu und die soziale Frage, wer sich die neu gebauten Wohnungen am Ende eigentlich leisten kann. Obendrein ist es zumeist alles andere als umweltverträglich, neu zu bauen und knappe Ressourcen energieintensiv zu verarbeiten.

Gödicke ist Teil eines achtköpfigen Teams, in dem die ARCH+ mit den Architekturbüros Summacumfemmer und Büro Juliane Greb zusammenarbeitet. Gemeinsam gestalten sie den deutschen Pavillon, ein von den Nationalsozialisten zu einem monumentalen klassizistischen Bau umgestaltetes Gebäude in den Giardini, dem Austragungsort der Biennale. Die Ausstellung des deutschen Teams will gar keine sein, sondern ein Handlungsansatz. „Open for Maintenance / Wegen Umbau geöffnet“ heißt sie – und richtet den Blick darauf, wer Architektur baut und pflegt, woher die Materialien dafür kommen, und wem sie Zugang und Raum gewähren.

18. Architekturbiennale Venedig: Realpolitische Überzeugungskraft

Deshalb ist schon der Zugang zum Pavillon neu gestaltet: Eine Rampe überbrückt die vorher mit Kinderwagen oder Rollstuhl unüberwindbaren Stufen. Gebaut ist sie aus recyceltem Baumaterial. Hier wird die detektivische Arbeit sichtbar, die Gödicke schätzt: „Schaut man sich die gealterten baulichen Strukturen der Stadt Venedig an, dann ist mangelnde Barrierefreiheit ein großes Problem. Diese Behinderung betrifft nicht nur Menschen mit Rollstuhl, sondern auch Arbeitskräfte mit schwerem Gerät oder Eltern mit Kinderwagen. Spätestens im Alter geht diese Barrierefreiheit uns aber alle an.“ Der Eingriff ist also einerseits schlicht praktisch. Andererseits steht auch die Gestaltung im Fokus des Kurationsteams – die Rampe macht aber gestalterisch, so drückt es Gödicke aus, „ganz selbstverständlich dieselbe große Geste wie der bestehende Zugang zum Pavillon, ist also gleichwertig und nicht ein Annex, der irgendwo rückseitig ansetzt.“

Die Rampe schwingt sich stolz vor dem Pavillon zum Eingang hinauf. „Ich glaube, die Architektur kann ihre realpolitische Überzeugungskraft entfalten“, sagt Gödicke, „wenn Leute den Wert in ökologisch und sozial nachhaltigeren Lösungen sehen: Ah ja, warum denn nicht eine Rampe bauen, die sieht super aus, lass uns auch Materialien wiederverwenden. Man hat ganz neue Möglichkeiten, wenn man den Gestaltungsanspruch ernst nimmt und als Chance begreift, sich neu zu positionieren.“

Der Hauptraum des Pavillons ist ein Materiallager. Leuchtend blaue Säulen, eine Stahltür, Kupferkabel liegen hier, bereit, weiterverarbeitet zu werden: Reste der Kunstbiennale im letzten Jahr, von der Initiative Rebiennale aus den Pavillons gerettet. Die blauen Säulen beispielsweise schmückten im vergangenen Jahr den israelischen Pavillon. In der Werkstatt in einem der Nebenräume können sie weiterverarbeitet werden, in Workshops von Auszubildenden und Studierenden, aber auch von den Besuchern. Eine Teeküche lädt zum Austausch. Neu ist auch ein Waschraum, in dem alle Ideen der Ausstellung zusammenkommen: Eine wasserlose Toilette (Ressourcenschonung!) verwandelt die humanen Hinterlassenschaften in Dünger (ökologische Verantwortung!) und ist durch die Gestaltung als All-Gender-Urinal nicht nur stehend, sondern auch hockend nutzbar (Inklusivität!).

Neben diesen sofort sichtbaren Eingriffen gibt es eine lange Liste an Kooperationspartnern: Berliner Initiativen wie Kotti & Co, die sich für bezahlbaren Wohnraum und gegen Rassismus einsetzen, sind ebenso eingeladen wie lokale Initiativen, beispielsweise die Assemblea Sociale per la Casa, die in Venedig leerstehende öffentliche Wohnungen besetzt und renoviert. Das verspricht interessante Gespräche und Vernetzungen in der Teeküche im deutschen Pavillon. Und das ist, was Gödicke unter Brückenbauen versteht: Möglichst viele Stimmen hören und sie verbinden.

Die Teeküche im Deutschen Pavillon in Venedig
Die Teeküche im Deutschen Pavillon in VenedigARCH+ SUMMACUMFEMMER BUERO JULIA GREB

Architektin Franziska Gödicke: Nichtakademische Eltern aus dem Osten

Gödicke steht in den theoretischen Diskussionen um Architektur fast selbst wie in einem Materiallager: Ein Zitat einer Philosophin als Schraube, der Begriff eines Architekten als Balken, der ihre Argumentation stützt, die gemauert ist aus zahlreichen Beispielen. Diese Beispiele fallen beim Gespräch mit ihr in einer solchen Geschwindigkeit, dass man entweder Architektur-Kenner sein muss oder sehr gut darin, nebenbei zu googeln, wenn man alles nachvollziehen will. So schwindlig das machen kann, die Argumente sind klar: Gödicke meint es ernst damit, Banden zu bilden und Allianzen einzugehen. Im Zusammenleben, im Bauen und eben auch im Denken sind wir nicht allein.

Und nicht ohne Geschichte: Auf ihre jetzt schon beeindruckend steile Karriere angesprochen, erzählt Gödicke: „Meine Eltern sind beide Nichtakademiker:innen aus dem Osten – ich würde lügen, wenn ich sage, dass es meinerseits keine intrinsische Motivation zum Klassensprung gibt. Dabei geht es mir aber weniger um eine (akademische) Karriere um der Karriere willen, als darum, mit dem Privileg, studiert haben zu können, auch zu arbeiten, es zu nutzen, um Dinge anzustoßen und zu verändern. Nicht ohne Grund habe ich mit ARCH+ und b+ Institutionen gewählt, die Ziele haben, für die ich gerne mitkämpfen will.“

Architektin Franziska Gödicke ist auch durch Ostdeutschland geprägt
Architektin Franziska Gödicke ist auch durch Ostdeutschland geprägtPeter Oliver Wolff

Wofür es sich zu kämpfen lohnt – Inklusion, soziale und ökologische Gerechtigkeit – wird im Pavillon klar. Wogegen, ist für Gödicke ebenfalls klar: Ihr ist wichtig, sich als Architektin „als eine von ‚denen da unten‘ zu begreifen, nicht als eine von ‚denen da oben‘, und sich zu organisieren. Jeder, der Raum nutzt, gestaltet ihn auch – und dieses Mitgestaltungsrecht gilt es, sich zurückzuerobern. Ich glaube, deshalb ist mir das Brückenschlagen so wichtig, weil das nur zusammen geht.“

Neben Großstädten, die von Investoren bestimmt werden, richtet Gödicke ihren Blick aber auch auf den ländlichen Raum in Ostdeutschland, zum Beispiel in ihrer Abschlussarbeit am Bauhaus. „Ich will bestimmt keine Ostromantik aufmachen und sagen, dass der Realsozialismus nur toll war. Allerdings konnte ich beobachten, dass sich für Leute im Osten die Wiedervereinigung eher wie eine Eingliederung der DDR in die BRD angefühlt hat, und entsprechend kam mit dem Gewinn vieler Freiheiten auch ein Verlust: von Strukturen zur Sorgearbeit, von Erwerbsstrukturen, Lebensstrukturen, Wertschätzungsstrukturen. Diese Zäsur ist bis heute spürbar, weil sie noch nicht überwunden ist.“

Hinzuschauen heißt bei Gödicke auch immer Solidarität, und Architektur ist für sie ein Hebel für soziale Gerechtigkeit: „Allein die Tatsache, dass von einem Dorf nur noch einmal am Tag ein Bus fährt, Glasfaser, Ärzte, Kindergärten fehlen, wirft diese Bereiche zurück. Das macht die Frage auf: Was ist die Zukunft von Architekt:innen zwischen Städten, die platzen, und völlig entleerten Landstrichen?“

Die Biennale kann diese Probleme nicht lösen – und beispielsweise die Wohnungsnot in Berlin nicht direkt lindern. Wenn allerdings der Blick auf Architektur tatsächlich weggeht vom großen, spektakulären Wurf, der vor allem Investoren erfreut, hin zu sozial und ökologisch verantwortungsvollem Bauen; wenn Gödicke symbolisch für eine neue Generation von Architekturschaffenden steht, die genauer hinschauen, zuhören, Brücken bauen – wenn man all das auf einmal für möglich hält, ist man wohl von Franziska Gödickes Optimismus mitgerissen.

18. Architekturbiennale Venedig. 20. Mai bis 26. November 2023