Kolumne

Verhaltensfrage: Darf ich mich selbst belügen?

Wer der Wahrheit ins Auge blicken könnte und sich mit ihren Konsequenzen abfinden würde, wie sollte der imstande sein, weiterzuleben? Selbstlüge ist Lebenskunst.

Roshanak Amini für Berliner Zeitung am Wochenende. Bilder: imago

Wie das denn gehen solle, fragt eine offenbar grundvertrauensvolle Kollegin, als ich die Verhaltensfrage, ob man sich selbst belügen dürfe, probehalber in das Großraumbüro rufe. Wir erlauben uns eine kleine Kaskade von Gegenfragen: Wie schafft man es, in einem Großraumbüro zu sitzen mit lauter Menschen, die einem unabhängig von aller Sympathie soziale Interaktion abnötigen? Wie schafft man es, acht Stunden mit Dingen beschäftigt zu sein, deren Sinn mit etwas kritischem Abstand leicht angezweifelt werden kann? Wie schafft man es, ohne zu lachen, eine doppelte Portion Wichtigkeit in die Stimme zu legen, wenn man ans Telefon geht? Also wie, liebe Kollegin, schafft man all dies, ohne sich selbst zu belügen? Sich etwas vorzumachen, eine wesensfremde Rolle einzunehmen, sich zu verwandeln, zu verstellen und so zu tun, als könne man sich für all das, was man tut, rechtfertigen?

Wie, liebe Kollegin, glaubst du, könnte man auch nur einen Schritt aus der Wohnung tun, ohne sich selbst zu belügen? Ahnst du wirklich nicht einmal, dass jegliche Selbstmotivation ein Lügengebäude ist, das bei dem kleinsten Kontakt zur Wahrheit in sich zusammenfällt? Wenn wir uns mal für einen Moment nichts vorzumachen und der Wahrheit ins Auge zu blicken versuchen – was sehen wir da? Tod, Verderben, Weltuntergang, Schuld, Leid, Ausweglosigkeit, Depression, Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard, David Foster Wallace. Schnell wieder weggeblinzelt und sich des Lebens, des Arbeitsplatzes und des sprudelnd mitreißenden Teamgeists gefreut! Kommt an meine Brust!

Die Lüge hat einen schlechten Leumund, dabei ist sie eine Fähigkeit, die den Menschen einerseits zu dem macht, was er ist, und es ihm darüber hinaus erlaubt, nicht an sich selbst zu verzweifeln. Es gibt auch im Tierreich und in der Flora Lüge und Verstellung: Da wären die Falschen Putzerfische, die so tun, als würden sie wie die allseits beliebten echten Putzerfische artfremden Meeresbewohnern die nervenden Parasiten aus den schwer erreichbaren Körperecken fressen, aber dann, wenn sich die Großfische bereitwillig hinstrecken, denkste, beißen die Falschen Putzer ihnen einfach ins gesunde Fleisch.

Scham und Selbstverachtung

Oder die unschuldig pflanzliche Venusfalle, die lockende Düfte süßen Nektars verströmt, um an die Proteine leichtgläubiger Insekten zu kommen. Das ist diesen Lebewesen alles ins Daseinsprogramm geschrieben – man darf bezweifeln, dass sie sich an ihren Triumphen freuen, weil sie sie nicht reflektieren. Vermutlich gehört das Verhalten ihrer Opfer für sie zu den Unergründlichkeiten der Schöpfung und sie nehmen es als gegeben hin. Wüssten sie, was sie da tun, müssten sie da nicht vor Scham und Selbstverachtung eingehen?

Aber was ist eigentlich so anders bei uns? Müssten wir nicht auch eingehen vor Scham und Selbstverachtung, wenn wir nicht verdrängen könnten, wer die Kosten unseres Wohlstands zahlt, dass unsere Nahrung aus leidenden und getöteten Lebewesen besteht, dass sich mit jedem Atemzug unsere Klimabilanz verschlechtert, dass wir allein schon durch unsere bei Licht betrachtet sinnlose Existenz zur Erderwärmung beitragen oder dass wir unsere Kinder mit Versprechen auf die Welt bringen, die wir niemals einhalten können? Sich selbst anzulügen, ist noch nicht die wahre Lebenskunst. Man muss es schaffen, sich zu glauben. So wie meine Kollegin.