Kolumne

Verhaltensfrage: Darf ich jemanden fragen, wie es ihm geht?

Wehe jemand nimmt das geheuchelte Interesse dieser Höflichkeitsfloskel ernst. Wer sich nach dem Befinden erkundigt, geht das Risiko einer Antwort ein.

Wer fragt, muss mit Antworten rechnen.
Wer fragt, muss mit Antworten rechnen.Roshanak Amini für die Berliner Zeitung am Wochenende, Bilder: imago(1), Wikimedia Commons(1)

Manche halten das für eine Ost-Macke. Wenn einer glaubt, dass die Empathie- und Interessebekundung, die in der oberflächlichen Frage „Wie geht’s?“ steckt, in irgendeiner Weise fundiert sein könnte. Wenn er also denkt, dass eine Antwort erwartet wird, die über „Bestens, danke, und selbst?“ hinausgeht.

Das Kommunizieren um des Kommunizierens Willen ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Es handelt sich um ein Anbahnungsritual, mit dem sich Menschen, bevor sie in einen echten Dialog treten, der gegenseitigen Anwesenheit und Aufmerksamkeit vergewissern und erst einmal friedliche Absichten signalisieren. Wer glaubt, wirklich Auskunft geben zu müssen oder zu dürfen, der hat er von  Umgangsformen ungefähr so viel verstanden wie jemand, der glaubt, dass man einer Dame einen Handkuss gibt, um zu prüfen, wie sie schmeckt.

Nähme man die Frage ernst, würde das Gespräch sofort in die Intimität abrutschen. Man könnte mit konkreten physiologischen Symptomen beginnen, der Stand der Gebrechen wäre zu aktualisieren, anschließend ließe sich zu einem Stimmungsbericht überleiten, der psychoanalytisch ausgreift, frühkindlichen Prägungen und Interferenzen mit dem Aktienkurs sowie dem Wetterbericht nachspürt. Und weil jeder weiß, dass das eigene Befinden mit dem der Nahestehenden verbunden ist, ist auch deren Gemüts- und Gesundheitszustand zu referieren.

Die Seele tut weh

In Amerika lautet die Standartantwort: „Fine!“ oder „Great!!“ oder sicherheitshalber „Fucking awsome!!!“ – natürlich immer mit der unmittelbaren Gegenfrage. Wenn es ein bisschen flapsiger zugehen darf, würgt man mit einem „Hör auf!“ oder „Frag nicht!“ oder „Verarschen kannst du dich alleine“ das höfliche Spiel ab, wonach übrigens durchaus in aller Ausführlichkeit herumgeklagt werden kann. Aus der Mode ist inzwischen die tapfer resignative Floskel „Muss ja“ geraten. Zu den etwas elaborierteren Antworten, die mit einem ironischen oder unheilschwangeren Ton hervorgebracht werden können, zählen: „Willst du das wirklich wissen?“ oder „Ich will dir nicht die Laune verderben“ oder „Sieht man das nicht?“ oder „Du kennst doch meine Familie (Kollegen, Vorgesetzten)“ oder „Du kennst meine Familie (Kollegen, Vorgesetzten) nicht“. In Russland soll es üblich sein, mit dem Seufzer „Duscha bolit“ zu antworten: „Die Seele tut weh.“ Darauf 100 Gramm.

Wie man ins Schwarze treffen kann mit der Frage, davon erzählt das Lied der Spaßschlagercombo Die drei Besoffskis: „Nichts zu saufen, nichts zu beißen/ Kann nicht pinkeln, kann nicht scheißen/ Und in der Hose einen Pinsel der nicht mehr steht/ Und dann fragst du dummes Arschloch wie’s mir geht.“

Doch auch, wer über keine dieser oder andere Beschwerden zu klagen hat, könnte, wenn er die in den Raum gestellte Höflichkeitsfloskel ernst nimmt und seine Schlüsse über den Fragenden zieht, sauer werden. Wer so etwas fragt, vielleicht noch mit einem Lächeln im Gesicht, kann nur ein selbstgerechter Ignorant sein, dem die Sonne aus dem Hintern scheint. Die Klimakatastrophe nimmt ihren Lauf, die Inflation frisst die Ersparnisse auf, die Mieten steigen, alle sozialen Utopien sind gescheitert, wir sind am Ende der Geschichte angekommen, jeden Tag verhungern und ertrinken Menschen – und du fragst einen hergelaufenen Wohlstandsbubi in Angestelltenverhältnis, wie es ihm geht? Statt dich um das Wohl derer zu kümmern, die darben und leiden? Wie soll es einem in dieser Welt gehen? Gut etwa?