Schon gefrühstückt? Hier soll der Versuch unternommen werden, der Sitte des Nasebohrens möglichst nüchtern auf den Grund zu gehen, ohne dass es übermäßig unappetitlich wird. Im Gegenzug sei die Leserschaft gebeten, sich nicht unkritisch dem anerzogenen Ekelreflex hinzugeben – denn dass der Mensch von Hause aus ein Popler ist, merkt man schon an der Mühe, die aufgewendet werden muss, um Kindern das Popeln abzugewöhnen.
Dabei sticht ins Auge, dass Kinder gerade hierbei nicht selten eine tiefe und versonnene Zufriedenheit zeigen, die sie sonst nur an den Tag legen, wenn sie sich einen Schaumkuss in den Rachen schieben – oder defäkieren. Dennoch wird von den Erwachsenen mit Mahnungen und Verboten eingegriffen. Das geht von der klaren Anweisung: „Finger aus der Nase!“ über das durchtriebene Hilfsangebot: „Brauchst du ein Taschentuch?“ bis hin zum ironischen Rat eines Fachmanns: „Pass auf, dass dir dein Arm nicht ins Gehirn rutscht!“ Dass dieses Erziehungsthema Konjunktur hat, zeigt sich darin, dass die Kinder das Thema in der Peergroup aufgreifen. Es gibt im sozialen Ranking auf dem Schulhof kaum etwas Niedrigeres als den Popelfresser.
Andere Sprüche, wie „Bitte nicht am Tisch!“ oder „Mach das, wenn du allein bist!“, weisen schon darauf hin, dass es bei dem Kritisierenden eine gewisse Anerkennung der Problemlage des Kritisierten gibt. Da ist jemand, der etwas in der Nase hat, was ihn stört. Und was wäre nicht schon von der Größe her geeigneter als ein Finger, dessen Kuppe – als wäre es Gottes Vorsehung – genau ins Nasenloch passt. Dazu kommt die Ausstattung mit dem Fingernagel, ein feines Kratz-, Kneif-, Hebel- und Greifwerkzeug aus Horn, das wie geschaffen dafür erscheint, Verkrustungen und Verborkungen von der empfindlichen Nasenschleimhaut zu entfernen, ohne diese zu verletzen.
Die medizinischen Gefahren des Popelns sollen nicht unerwähnt bleiben. Das geht bis zur Durchbohrung der Nasenscheidewand! Bei diesem Thema zu Problematisierung neigende HNO-Ärzte, deren Erfahrungshorizont etwas eingeengt ist, weil sie überdurchschnittlich oft mit im Alltag sehr seltenen popelverursachten Verletzungen zu tun haben, raten zum Gebrauch von befeuchtenden Salben und Tropfen – und empfehlen mehrmals tägliche Spülungen mit einer milden Salzlösung. Dabei ist das tägliche Zähneputzen schon eine Zumutung!
Aber wo waren wir stecken geblieben …? Beim Popel, der jetzt unterm Fingernagel klemmt. Zu dessen Reinigung wiederum sind die Zähne mit ihren Kanten höchst geeignet. Und wenn dann das Substrat einmal an Ort und Stelle ist, kann es ohne Bedenken verschluckt werden. Die neben dem körpereigenen Schleim enthaltenen Staubpartikel und Pollen sind ungefährlich; Bakterien und andere Krankheitserreger, die noch nicht über die Nasenschleimhaut in den Blutkreislauf gefunden haben, werden im Verdauungstrakt sicher abgetötet.
Dort wäre das Gemisch, wenn es nicht angetrocknet wäre, ohnehin gelandet, allerdings auf direktem Wege durch den Rachen, transportiert von den nach innen gerichteten Flimmerhärchen. Das Verspeisen von eigenen Popeln ist nicht nur unbedenklich, es gibt sogar Beweise, dass im Popel enthaltene Sekrete gut für die Zähne sind, weil sie sich wie ein Schutzfilm über den Schmelz legen. Aber wir wollen nicht medizinisch argumentieren, schließlich handelt es sich um eine Sittenkolumne.
Das kulturelle Problem des Popelns liegt nämlich woanders begründet. Der popelnde Mensch ist mit sich selbst beschäftigt und signalisiert, dass ihm das vollauf genügt. Kultur aber ist Interaktion, ist Kommunikation. Die Geste des Fingers in der Nase kann nur als Abfuhr gelesen werden. Die Welt erfährt die Selbstzufriedenheit des Poplers als kränkende Zurückweisung. Abgesehen davon, dass das versonnene Spielen am Zinken und seinen Löchern vermutlich unbewusst, aber doch wenig verklausuliert auf eins der größten kulturellen Tabus verweist: die Selbstbefriedigung.












