Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht wollte am vergangenen Sonnabend in einem Vortrag an der Humboldt-Universität (HU) darstellen, warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt. Die HU sagte den Vortrag ab, nachdem der Arbeitskreis kritischer Jurist:innen zu Gegenprotesten aufgerufen hatte: Die Behauptung, es gebe nur zwei Geschlechter, sei unwissenschaftlich, menschenverachtend und queer- und trans*feindlich. So weit geht der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß nicht, doch er widerspricht im Interview mit der Berliner Zeitung der Behauptung, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Die Vielfalt der Geschlechter sei auch Mehrheitsmeinung in der Biologie. Der HU-Biologe Rüdiger Krahe, der die Doktorarbeit von Marie-Luise Vollbrecht betreut, sagt hier dagegen, die Zweigeschlechtlichkeit sei unter Evolutionsbiologen vollkommen unstrittig. So werde es auch an der HU gelehrt.
Marie-Luise Vollbrecht, die bei Ihnen am Institut an ihrer Promotion arbeitet, behauptet, die Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie sei ein evolutionärer Fakt. Das sei aktueller Stand der Wissenschaft, wie er auch an der Humboldt-Universität gelehrt wird. Ist das so?
Ich stimme da völlig mit Frau Vollbrecht überein, und darüber gibt es in der Biologie eigentlich auch keine Diskussionen. Die Biologie definiert Geschlecht auf der Basis der Keimzellen, auf deren Produktion ein Organismus ausgerichtet ist, also ob er Eizellen oder Spermien produziert. Dazwischen gibt es nichts.
Man spricht doch aber auch von einer Vielzahl von Geschlechtern. Was ist damit gemeint?
Damit ist die Geschlechtszugehörigkeit gemeint, im Sinne von Gender. Das ist etwas anderes. Der Streit geht darum, ob es biologische Grundlagen dafür gibt, was manchmal auch als Geschlechterspektrum bezeichnet wird, was aber eigentlich Genderspektrum heißen sollte. Dafür mag es durchaus biologische Grundlagen geben, aber das bedeutet nicht, dass es Organismen gibt, die andere Arten von Keimzellen produzieren außer den beiden genannten.

Meine Kollegin hat gerade ein Interview mit dem Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß geführt, der sagt, die Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie sei nicht mehr Forschungsstand. Es gebe so viele Geschlechter, wie es Menschen gebe. Was sagen Sie dazu?
An den zwei Typen von Keimzellen kommt man einfach nicht vorbei. Man kann natürlich andere Definitionen aufbringen, aber die gehen dann weg von dieser ganz basalen Unterscheidung. In der Evolutionsbiologie wird das nicht diskutiert. Da redet kein Mensch von der Vielfalt von Geschlechtern. Und das findet man auch in den neuesten Biologielehrbüchern nicht.
Voß sagt, es gebe 1000 Gene, die zur Entwicklung von Geschlecht beitrügen, nur ein Bruchteil sei untersucht und die alleinige Betrachtung des XX- oder XY-Chromosoms sei überholt.
Das ist vollkommen richtig. An diesen Chromosomen macht das in der Biologie niemand fest. Es gibt ja auch Organismen, die beide Keimzellen produzieren können, Hermaphroditen. Es gibt Fische, die am Anfang ihres Lebens Weibchen sind, und die größten werden dann irgendwann zu Männchen. Das kann nicht über Chromosomen laufen, denn die ändern sich ja nicht.
Widerlegt denn die Tatsache, dass es Intergeschlechtlichkeit gibt, also Menschen, die etwa mit uneindeutigen Genitalien geboren werden, nicht die Behauptung der Zweigeschlechtlichkeit?
Nein. Dass es diese Menschen gibt, ändert ja nichts daran, dass es nur zwei Typen von Keimzellen gibt. Und das ist das Entscheidende bei der biologischen Definition.
Könnte man diese Menschen nicht als drittes Geschlecht bezeichnen?
Das würde man aus biologischer Sicht nicht tun, denn diese Menschen entwickeln teilweise Samen-, teilweise auch Eizellen und häufig auch gar keine Keimzellen. Ein weiteres Geschlecht zu deklarieren, hätte da keinen Sinn. In der Biologie geht es einfach um die Frage, wie sich Organismen reproduzieren. Und Reproduktion beim Menschen ist an die Vereinigung von Samen- und Eizelle gekoppelt. Eine Person, die steril ist, kann sich evolutionär nicht durchsetzen, da sie keine Nachkommen hat. Das ist der biologische Blick darauf. In dem Ansinnen, ein drittes Geschlecht zu deklarieren, drückt sich zum Beispiel der starke Wunsch aus, das Konzept „biologisches Geschlecht“ für Phänomene wie Intersexualität anzupassen.
Muss man alles auf die Keimzellen reduzieren?
Die Biologie fragt eben, wie Evolution funktioniert und wie sich etwas in der Evolution entwickelt. Das geht nur mit sich fortpflanzenden Organismen. Natürlich können sich in der Evolution Verhaltensvarianten entwickeln. Es ist ja nicht so, dass alle männlichen und weiblichen Wesen komplett identisch sind und sich identisch verhalten. Viele unterschiedliche Gene haben Einfluss auf die Entwicklung, auch die Umwelt.
Könnte man nicht auch zwischen Menschen mit einem hohen und einem niedrigen Testosteronspiegel unterscheiden statt zwischen Männern und Frauen?
Ein Mann mit wenig Testosteron produziert auch Spermien, genau wie ein Mann mit viel Testosteron. Die Vielfalt will ich nicht negieren, aber die hängt nicht an der Definition von biologischem Geschlecht. Man kann natürlich Geschlecht anders definieren, aber dann lösen wir uns von der basalen Definition, die auf der Fortpflanzung beruht.
Wäre das vorstellbar?
Das sehe ich nicht kommen. Aber so lange man weiß, worüber man redet, kann man alles machen.
Ist jemand, der auf der Zweigeschlechtlichkeit als evolutionärem Fakt in der Biologie beharrt, transfeindlich? Sind Sie transfeindlich?
Um Himmels willen! Nein! Das hat nichts miteinander zu tun. Bei trans Personen geht es ja um die Frage, welchem Geschlecht sie sich zuordnen, und da wäre es hilfreich, wenn man den Begriff Gender benutzen würde. Der Streit um die Zweigeschlechtlichkeit ist so überflüssig wie ein Kropf. Das Ganze ist eine sprachliche Verwirrung. Mit Transfeindlichkeit hat das nichts zu tun. Es geht nur um den biologischen Blick auf die Fortpflanzung. Und zwar bei allen sich geschlechtlich fortpflanzenden Organismen, nicht nur beim Menschen. Aber beim Menschen ist eben die Dimension der Genderzugehörigkeit darübergelegt. Wenn man in dem Zusammenhang von Geschlecht spricht, muss einem klar sein, dass es etwas anderes ist als das, was in der Biologie basal Geschlecht genannt wird.
Sie sind der Doktorvater von Marie-Luise Vollbrecht. Was halten Sie denn davon, dass ihr Vortrag von der Humboldt-Universität abgesagt worden ist?
Mit der Absage bin ich vollkommen einverstanden. Es sah wirklich so aus, als könnte die Lage eskalieren. Frau Vollbrecht sollte von den Protestierenden mit aller Gewalt das Wort verboten werden. Die Lange Nacht der Wissenschaften ist dafür da, Wissenschaft nach außen zu tragen, da nehmen auch Familien teil, und jetzt bestand die Gefahr, dass die Auseinandersetzung um den Vortrag im Hauptgebäude der HU alles überschattet hätte und keine der Veranstaltungen hätte stattfinden können. Die HU wird ein anderes Format finden und hat das zeitgleich mit der Vortragsabsage angekündigt. Deshalb verstehe ich nicht, wie man hier sagen kann, die Wissenschaftsfreiheit sei in Gefahr.
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