Berlin-Die Lange Nacht der Wissenschaften startete nach zweijähriger Pandemiepause mit einem kleinen Skandal: Die Humboldt-Universität (HU) zu Berlin hatte einen Vortrag einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin nach Protesten aus der Studierendenschaft kurzfristig abgesagt. Was ist passiert?
Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht sollte am Sonnabend eigentlich einen Vortrag zum Thema „Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt“ halten, dieser wurde dann aber nur Stunden vor der geplanten Veranstaltung abgesagt.
Lesen Sie hier den Kommentar von Susanne Lenz: Cancel Culture an der Humboldt-Uni
Die Sprecherin der HU, Birgit Mangelsdorf, sagte dieser Zeitung auf Nachfrage, dass die Veranstaltung „im Interesse der Gesamtveranstaltung Lange Nacht der Wissenschaften abgesagt“ worden sei, um „Akteur:innen wie Besucher:innen die ungestörte Teilnahme an diesem Fest der Wissenschaften in Berlin zu ermöglichen“.
Zu Protesten hatte nämlich der „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen an der Humboldt Uni Berlin“ (AKJ) aufgerufen, sie werfen Vollbrecht in einem Statement Queer- und Transfeindlichkeit vor und kündigten für Sonnabendnachmittag eine Demonstration unter dem Motto „Keine Bühne für queer- und trans*feindliche Ideologien an der HU“ an.
+Demoaufruf+
— akj hu berlin (@akj_berlin) July 1, 2022
Geschlossen gegen Trans*feindlichkeit -
Keine Bühne für die Co-Autorin von Statements einer "biologischen Realität der Zweigeschlechtlichkeit" und ""woker" Trans-Ideologie".
An unserer Uni gibt es keinen Platz für Queerfeindlichkeit. Wir sehen uns auf der Straße! pic.twitter.com/Yd6kR6Ka8O
Laut Medienberichten habe Vollbrecht in ihrem Vortrag evolutionsbiologisch herleiten wollen, warum es aus biologischer Sicht nur zwei Geschlechter gebe, biologisches und soziales Geschlecht unterschiedliche Dinge seien. Die Studierendenvereinigung der HU habe auch deshalb am Freitag „eine E-Mail an die gesamte Studentenschaft verschickt“, erklärte Birgit Mangelsdorf von der HU dieser Zeitung. Dort sei zur „Teilnahme an einer Demonstration gegen den Vortrag von Frau Vollbrecht“ aufgerufen worden, gleichzeitig seien Gegenproteste von Unterstützerinnen und Unterstützern für Marie-Luise Vollbrecht angekündigt worden. Deshalb habe man mit einer Eskalation gerechnet, die Veranstaltung abgesagt.
In der BILD zeigte sich Vollbrecht „traurig“ über die Absage, man könne nicht von einer sachlichen Debatte sprechen, „wenn Veranstaltungen aus Angst vor Gewalt abgesagt werden“ würden. Die Proteste seien für sie ein weiteres Beispiel, „mit welch radikalen Mitteln Genderideologien“ vorgingen, und weiter: „Das Einknicken vor radikalen gewaltbereiten Aktivisten, die kein Verständnis von Biologie haben, ist verständlich, aber alarmierend.“
Kritik an Äußerungen Vollbrechts aus dem Juni: HU distanziert sich
Die Polizei teilt auf Nachfrage mit, dass die angekündigte Demonstration ab 16 Uhr unter dem Motto „Gegen transfeindliche Positionen an der Humboldt Universität“ für 50 Teilnehmende angemeldet worden ist. Ab 16.45 Uhr protestierten dann 100 Menschen vor der HU, der Protest verlief laut Polizei „störungsfrei“ und endete planmäßig 19 Uhr.
In einer Pressemitteilung des AKJ erklärte deren Sprecherin, Stefanie X. Richter, den Protest der Studenten und Studentinnen und sagte, dass Vollbrecht „eine überkommene biologistische und starr zweigeschlechtliche Sichtweise“ vertrete, die HU verschließe „die Augen vor dieser transfeindlichen Positionierung“. Kritik äußerten die Protestierenden auch am Format, dass der Biologin einerseits „mit dem Senatssaal eine besonders prominente Bühne“ geboten, deren Position andererseits aber nicht in eine Diskussion eingebaut werde, „in der eine Gegenmeinung vertreten werden“ könne.
Anfang Juni schrieb die Biologin unter dem Titel „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“ in der Welt gemeinsam mit anderen Autorinnen und Autoren bereits über die „bedrohliche Agenda“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: „Wir verlangen eine Abkehr von ideologischer Betrachtungsweise – und zwar insbesondere bei dem Trend-Thema ‚trans‘“, hieß es dort. Zu oft werde geleugnet, „dass es nur zwei Geschlechter gibt“.
Im Gespräch mit der Berliner Zeitung sagte die Sprecherin der Universität, Birgit Mangelsdorf, dass die Äußerungen Vollbrechts im Welt-Artikel „nicht im Einklang mit dem Leitbild der HU und den von ihr vertretenen Werten“ stünden, man habe sich als Universität einem „wechselseitigen Respekts vor dem/der Anderen“ verpflichtet: „Wir distanzieren uns daher von dem Artikel und den darin geäußerten Meinungen ausdrücklich.“
Folgetermin gesucht: Veranstaltung verschoben, nicht abgesagt
Marie-Luise Vollbrecht verlegte ihren Vortrag dann kurzerhand ins Internet, veröffentlichte ihn noch am Sonnabend bei YouTube. Sagte dort auch, dass sie gemeinsam mit der HU nach einem Alternativtermin suche, der Vortrag also nicht abgesagt, sondern lediglich verlegt worden sei. Dass der eigentliche Termin wegen Sicherheitsbedenken verschoben worden ist, sei für Vollbrecht „verständlich“, gleichzeitig betonte sie, dass die HU sich nicht inhaltlich von ihren Statements distanziert habe.
Den geplanten Folgetermin bestätigt auch HU-Sprecherin Birgit Mangelsdorf, neben Vollbrecht sollen dann Vertretungen der Studierenden sowie „Trans-Gruppen eingeladen werden, um das Thema in einer der Universität angemessenen Weise“ zu diskutieren.
In diesem Jahr stand die Lange Nacht der Wissenschaften unter dem Motto „Wissenschaft als Antwort auf Fake News, Verschwörungstheorien und fatale Irrtümer“.
Die Berliner Zeitung hat versucht, Marie-Luise Vollbrecht und den AKJ für weitere Stellungnahmen zu erreichen. Bisher erfolglos.

