Kolumne

Ein Bioladen in Neukölln: Mit diesem Satz warf mir ein Kunde mein ganzes Leben vor die Füße

Feierabend: Ich wollte nur noch schnell ein halbes Brot kaufen. Dann kam es zu einer folgenschweren Begegnung an der Bäckertheke. Eine Kolumne.

Auch an der Theke einer Bäckerei kann man erschütternde Begegnungen haben.
Auch an der Theke einer Bäckerei kann man erschütternde Begegnungen haben.Florencia Viadana/Unsplash

Es war am frühen Abend, ich war mit dem Fahrrad auf dem Nachhauseweg von der Arbeit und wie immer in Eile. Aber es half nichts, ich brauchte noch Brot fürs Frühstück am nächsten Morgen und musste die Fahrt unterbrechen. Vor einem Bioladen am Kottbusser Damm in Neukölln hielt ich an, schloss das Fahrrad ab, nahm die Tasche aus dem Korb. All diese Verrichtungen, die man so oft tut, ohne weiter darüber nachzudenken, die einem jedoch als lästig, störend, zeitraubend ins Bewusstsein kommen, wenn man in Hektik ist. Es lag noch ein einziges halbes Vollkornbrot in der Backtheke, vielleicht lässt sich mein Verhalten auch damit erklären.

Ich stellte mich links neben den Mann, der gerade bedient wurde. Als er fertig war, wandte sich die Verkäuferin dem Mann zu, der auf der anderen Seite stand, dort, wo die Schlange eigentlich beginnt. Ich hatte ihn bis dahin nicht wahrgenommen. Deshalb stellte ich die Frage, ob nicht ich als Nächste an der Reihe sei. Der Mann reagierte zunächst empört. Er sei vor mir da gewesen, ich sei doch an ihm vorbeigekommen, ob ich ihn nicht gesehen habe. Ich entschuldigte mich sofort und wollte ihm den Vortritt lassen.

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Eine Floskel vielleicht, aber mich schmetterten diese Worte nieder

Er – nun schon freundlicher gestimmt – lehnte ab, signalisierte, mir den Vortritt lassen zu wollen und sagte dazu folgenden Satz: „Machen Sie ruhig, ich habe mehr Zeit als Sie.“ Eine Floskel vielleicht, aber mich schmetterten diese Worte nieder. Ich wies auf das letzte halbe Brot, die Verkäuferin steckte es in eine braune Tüte, ich legte Geld auf die Theke. Alles ganz normal, aber in mir arbeitete es. Als ich den Laden verließ, nickte ich dem Mann noch einmal dankend zu. Und er? Er winkte ab und sagte tatsächlich den Satz noch einmal: „Ich habe mehr Zeit als Sie.“

War das wirklich ein normaler Kunde oder ein mir geschicktes höheres Wesen, das mich auf einen grundlegenden Missstand aufmerksam machen wollte? Den ewigen Zeitmangel, die Hetzerei, die Ungeduld, den Stress. „Ich habe mehr Zeit als Sie.“ Der Satz hallt noch Tage später in mir nach. Es ist, als hätte der Mann mir damit mein ganzes Leben vor die Füße geworfen.