Kolumne

Senioren ohne Internet: Der Brief, der bei meiner 87-jährigen Mutter einen Wutanfall auslöste

Meine Mutter ist 1936 geboren, sie hat ihr Leben lang mit Papier gearbeitet. Doch nun wird sie aufgefordert, Nachbarn um Hilfe zu bitten, die einen Internetanschluss haben.

Eine Seniorin schreibt mir der Hand – doch immer mehr wird mit digitalen Formularen gearbeitet.
Eine Seniorin schreibt mir der Hand – doch immer mehr wird mit digitalen Formularen gearbeitet.Westend61/imago

Das Schreiben, das an diesem Morgen im Briefkasten lag, löste bei meiner Mutter einen Wutanfall aus. Der Energiedienstleister meldete, er wolle die jährliche Abrechnung über die Heiz- und Warmwasserkosten nur noch online übermitteln. Die von der Bundesregierung beschlossenen Gesetze zur Bewältigung der Energiekrise und Eindämmung des Klimawandels verändern auch die Heizkostenabrechnung, hieß es. Dezembersoforthilfe, Energiepreisbremsen und CO₂-Kostenaufteilung erforderten die Erfassung zusätzlicher Daten, um eine rechtskonforme Abrechnung erstellen zu können. „Sie erhalten deshalb keine Papierformulare mehr.“ Die papierhafte Übermittlung dieser Daten wäre sehr komplex und auch fehleranfällig.

Meine Mutter ist im Jahr 1936 geboren. Sie besitzt weder einen Computer noch einen Internetanschluss. Während ihrer kaufmännischen Ausbildung hat sie gelernt, zu stenografieren, offizielle Briefe schrieb sie ihr Leben lang auf einer Schreibmaschine, später auch per Hand. Mithilfe von Blaupapier sorgte sie für einen Durchschlag, den sie in einem Ordner abheftete. Blaupapier, Durchschlag – vielleicht können nur die Älteren diese Vokabeln noch verstehen. Meine Mutter jedenfalls sprach von Mail-Schikane. Mit etwas Abstand betrachtet, könnte man sagen, dass sie in einer Übergangszeit lebt, die Opfer fordert.

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Denn das in dem Schreiben vorgebrachte Anliegen ist ihr nicht neu, wie ich bei diesem Heimatbesuch erfuhr. Kürzlich verlangte eine Versicherung, sie möge das Angebot, das ein Handwerker zwecks Beseitigung eines Wasserschadens in ihrer Wohnung erstellt hatte, doch bitte einscannen und mailen. Nach einem längeren Telefonat, bei dem ihr geraten wurde, sie möge doch einen Nachbarn bitten, sei ihr dann doch „erlaubt“ worden, das Angebot per Post zu schicken.

„Ich habe immer alles selbst geregelt“, sagt meine Mutter

Der Vorschlag, einen Nachbarn zu fragen, oder auch Freunde, Familienangehörige, sei ihr schon öfter gemacht worden, erfuhr ich jetzt. Er empört meine Mutter. „Ich habe immer alles selbst geregelt“, sagte sie. „Was gehen die Nachbarn meine Angelegenheiten an. So weit kommt’s noch!“ Ich verstehe sie.

Meine Mutter fühlt sich, also wolle man sie abschaffen. Dann sagte sie einen Satz, den ich nicht hören will: „Bald sind alle, die keine E-Mail haben, tot, dann geht es den gewünschten Gang.“