Corona-Debatte

Übersterblichkeit: Studie sieht Zusammenhang mit Covid-19, nicht mit Impfungen

Eine Studie mit insgesamt etwa 10,5 Millionen Versicherten erfasst erstmals den Zusammenhang zwischen Todesfällen und Erkrankungen in den Jahren 2020 bis 2022.

Blick in eine Intensivstation. Vor allem alte Menschen waren von schweren Corona-Verläufen betroffen.
Blick in eine Intensivstation. Vor allem alte Menschen waren von schweren Corona-Verläufen betroffen.Fabian Strauch/dpa

Eine neue Studie befasst sich mit der Übersterblichkeit während der Corona-Pandemie – also mit der Frage: Wie weit ging die Zahl der Sterbefälle über das hinaus, was statistisch zu erwarten gewesen wäre, verglichen mit den Jahren vor der Pandemie? 

Das Barmer-Institut für Gesundheits­systemforschung (bifg) hat für seine Studie die Daten von etwa 10,5 Millionen Versicherten untersucht. Es mischt sich damit in die jüngste Debatte, unter anderem um eine Studie, die jüngst in der Berliner Zeitung vorgestellt worden war. Auch Medien wie die FAZ und tagesschau.de schrieben über sie.

Gemeint ist die Studie von Christof Kuhbandner, Professor für Pädagogische Psychologie aus Regensburg, und Matthias Reitzner, Mathematik-Professor aus Osnabrück. Sie lege eine Übersterblichkeit von rund 100.000 Fällen im Zeitraum 2020 bis 2022 nahe, heißt es in der neuen Studie. „Besonders hohe relative Übersterblichkeiten wurden in den Altersgruppen zwischen 15 und 79 Jahren errechnet.“

Eine Assoziation der geschätzten Übersterblichkeit mit Covid-19-Erkrankungen werde in der Studie als unwahrscheinlich erachtet. „Stattdessen wird ein Zusammenhang zwischen Übersterblichkeit und Covid-19-Schutzimpfungen diskutiert.“

Autoren schätzen eine Übersterblichkeit von etwa 166.000 Fällen

Die Barmer-Studie kommt zu anderen Ergebnissen. Diesen zufolge gab es im Zeitraum von 2020 bis 2022 eine „geschätzte Übersterblichkeit“ von deutschlandweit rund 166.000 Fällen. Rund 99 Prozent der Übersterblichkeit betrafen die Altersgruppen ab 60 Jahre. Allein mit 92 Prozent waren die Altersgruppen ab 70 Jahre betroffen. Die Studie zeigt zugleich einen Zusammenhang zwischen Übersterblichkeit und Covid-19. Es ist eine Preprint-Studie, die der Fachöffentlichkeit zur Diskussion gestellt worden ist, ohne bisher ein sogenanntes Peer-Review-Verfahren durchlaufen zu haben.

Die Studienautoren verweisen auf die Einschränkungen bisheriger Studien, die sich auf Auswertungen des Statistischen Bundesamts stützen. Deren Daten ließen „keine Rückschlüsse auf Zusammenhänge zwischen Sterblichkeit, Alter und Covid-19-Erkrankungen auf individueller Ebene zu“, schreiben sie. Die neue Studie dagegen beruhe auf „Routinedaten“ von etwa 10,5 Millionen Versicherten aus den Jahren 2018 bis 2022. 

Diese beinhalteten neben den Sterbedaten auch ärztliche Diagnosen für die einzelnen Versicherten. „Wir können die Ebene einzelner Personen abbilden: Wann ist die Person gestorben? Wie alt war sie? Welches Geschlecht hatte sie und welche Erkrankungen hatte sie?“, sagt Martin Rößler, einer der Studienautoren, auf dem Portal tagesschau.de.

Untersuchung auf der Grundlage von 99.328 Risikogruppen

Die in der Studie verwendeten Methoden und Modelle werden ausführlich erklärt. So wurden der Darstellung zufolge zur Gruppierung der 10,5 Millionen Versicherten solche Erkrankungen ausgewählt, die „eine hohe Relevanz für die Sterblichkeit haben“. Dazu gehören unter anderem Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzrhythmusstörungen, Influenza (Grippe), Nierenversagen, Pneumonie (Lungenentzündung ohne Covid-19-Diagnose) und Polytrauma (lebensbedrohliche Verletzungen durch Unfall). 

Daraus bildeten die Forscher 99.328 mögliche Risikogruppen, „deren zugehörige Versicherte sich durch jeweils identische Kombinationen von Alter, Geschlecht und Erkrankungsprofil im betrachteten Kalendermonat auszeichneten“. Für jede dieser Risikogruppen wurde die erwartete Zahl an Sterbefällen berechnet, und zwar auf der Grundlage vorpandemischer Daten. Dies machte es laut Studie möglich, zu untersuchen, wie sich „das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen von Covid-19-Diagnosen“ auf die Sterblichkeit auswirkte.

Außerdem rechneten die Forscher ihre Ergebnisse zur Übersterblichkeit auf die deutsche Gesamtbevölkerung hoch, indem sie eine Gewichtung der einzelnen Versichertengruppen vornahm und mittels bestimmter Methoden Verzerrungen durch altersspezifische und regionale Unterschiede ausglichen.

Die höchste Sterberate wurde im Dezember 2022 verzeichnet

Insgesamt zeigte sich der Studie zufolge eine tendenziell steigende Sterberate zwischen 2018 und 2022. „Auffällig waren hierbei insbesondere die Wintermonate der Jahre 2020 bis 2022“, so die Autoren. „Die höchste Sterberate wurde im Dezember 2022 verzeichnet.“ Nach Altersgruppen differenziert habe sich ein erwartbar starker Zusammenhang zwischen der Gesamtsterblichkeit und dem Alter gezeigt. Die mit Abstand höchste Sterberate sei „in der Altersgruppe 90+“ aufgetreten.

Im Dezember 2022 habe es eine rund 47 Prozent höhere Sterberate im Vergleich zu den Dezembermonaten 2018 und 2019 gegeben, so die Studie. Dieser starke Anstieg  „korrespondierte mit einem sprunghaften Anstieg der stationären Influenza-Diagnosen“. Damit belegt die Studie, dass es im Winter 2022 eine schwere Grippewelle gab. „Der starke Anstieg der relativen Sterberaten im Dezember 2022 trat bei allen Altersgruppen mit Ausnahme der Gruppe der 0- bis 39-Jährigen auf.“

Kuhbandner und Reitzner hatten jüngst angemerkt, dass Ende 2022 keine neuen Grippe-Virusvarianten aufgetreten zu sein scheinen. „Es stellt sich also die Frage, wie es sein kann, dass gewöhnliche Grippeviren zu einem solch ungewöhnlichen Zeitpunkt solche extremen Wirkungen erzeugen können. Dafür gibt es bisher keinerlei nachvollziehbare Erklärung.“

Übersterblichkeit ist besonders stark mit Covid-19-Diagnosen assoziiert

Diese Frage wird in der neuen Barmer-Studie auch nicht näher untersucht. Diskutiert wurde aber in diesem Zusammenhang bereits, dass die besonders starke Grippewelle im Zusammenhang mit den Pandemiemaßnahmen der beiden Jahre davor stehen könnte. Lockdown und Maskenpflicht hätten auch Influenza-Infektionen unterdrückt.

Der „Nachholeffekt“ Ende 2022 könnte sich besonders auf vulnerablen Gruppen ausgewirkt haben, mit einem „überproportionalen Anstieg der Todesfälle“ aufgrund der hohen Belastung im Gesundheitssystem und des Mangels an Medikamenten, wie es zum Beispiel ein Gesundheitsökonom am Kiel Institut für Weltwirtschaft bereits während der Welle befürchtet hatte.

Im Gegensatz zur Studie von Kuhbandner und Reitzner konstatiert die Barmer-Studie aus ihren Versichertendaten für jüngere Altersgruppen „kontinuierlich niedrigere Sterberaten“. Auch die in der Studie veröffentlichten Grafiken zeigen keine nennenswerten statistischen Ausschläge in den jüngeren Altersgruppen. Stattdessen sieht die Barmer-Studie einen Zusammenhang zwischen der „morbiditätsadjustierten Übersterblichkeit und Covid-19“, speziell bei den älteren Menschen. Wie bereits erwähnt, betrafen der Studie zufolge 99 Prozent der Übersterblichkeit die Altersgruppen ab 60 Jahre.

Insgesamt seien im Pandemiezeitraum rund acht Prozent der beobachteten Sterbefälle mit Covid-19-Diagnosen assoziiert gewesen. Bei der Übersterblichkeit aber treffe dies auf „mehr als drei Viertel“ der Fälle zu, konstatiert die Studie. Dies sei konservativ geschätzt, sagt Studienautor Martin Rößler, weil Covid-19-Erkrankungen, die nicht von einem Arzt diagnostiziert wurden, nicht in den Daten auftauchten.

Gleichwohl könne man auch hier keine Kausalitäten ermitteln. „Eine Unterscheidung des Versterbens an und des Versterbens mit Covid-19 ist daher auf unserer Datengrundlage nicht möglich“, schreiben die Autoren. Der menschliche Körper sei ein sehr komplexes System, sagt dazu Sebastian Klüsener, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB), auf tagesschau.de. „Meistens sind es drei, vier Ursachen, die zusammenkommen. Und perfekt wird man es nie erfassen können. Aber auch ohne perfekte Erfassung sind die Daten solide genug, um daraus wichtige Erkenntnisse zu Trends in den Todesursachen ableiten zu können.“

Keine validen empirischen Daten zum Einfluss der Impfungen

Klüsener verweist auch darauf, dass sich die Versicherten der Barmer-Studie gesundheitlich und sozial eher im Mittelfeld befänden. Die Corona-Sterblichkeit soll aber Angaben des Robert-Koch-Instituts zufolge bei finanziell ärmeren Menschen höher gewesen sein, sodass die Ergebnisse der Preprint-Studie „eher konservativ einzuschätzen sind, was den Einfluss des Virus auf die Übersterblichkeit betrifft“.

Insgesamt widersprächen ihre Ergebnisse „in allen zentralen Aspekten denjenigen von Kuhbandner und Reitzner“, konstatieren die Studienautoren. Dies betreffe insbesondere die aus den Analysen resultierende „eindeutige Zuordnung der Übersterblichkeit zu höheren Altersgruppen sowie den starken Zusammenhang zwischen Übersterblichkeit und Covid-19“. Für Vermutungen, dass die Übersterblichkeit maßgeblich durch Corona-Impfungen verursacht worden sei, gebe es „keine valide empirische Grundlage“.

Leider müssen die Studienautoren zugleich darauf hinweisen, dass auch die Versichertendaten keine ausreichende Grundlage bildeten, um einen „Zusammenhang zwischen Übersterblichkeit und Covid-19-Schutzimpfungen“ wirklich wissenschaftlich valide zu analysieren.

Das liege an der Coronavirus-Impfverordnung, schreiben sie. „So erfolgte die Meldung von Impfungen in früheren Pandemiephasen an das Robert-Koch-Institut, aber nicht an die gesetzlichen Krankenkassen.“ Dabei hatten einer Studie zufolge Fachgesellschaften bereits vor dem Impfstart 2020 darauf hingewiesen, dass Krankenkassen einen wichtigen Beitrag zur Evaluierung der Corona-Impfung leisten könnten.

Verpasste Chance für tiefergehende Untersuchung

Auf der Grundlage von Versichertendaten könnte man zum Beispiel eine genau definierte Risikogruppe 70-jähriger Männer mit vergleichbarem Erkrankungsprofil nicht nur daraufhin untersuchen, wie sich eine Covid-19-Diagnose auf ihre Sterblichkeit auswirkte.

Man könnte viel tiefer fragen: Wer in dieser Risikogruppe war geimpft und wer nicht? Wie viele der Geimpften bekamen eine Covid-19-Diagnose und wie viele der Ungeimpften? Wie viele Verstorbene in der Corona-Untergruppe waren geimpft, wie viele nicht? Und wie sah es bei den Verstorbenen in der Untergruppe ohne Corona-Diagnose aus? Die Chance für eine solche wirklich valide Untersuchung wurde leider verpasst. Sie ist nicht mehr nachzuholen.