„Wir werden auf diesem Kongress kontroverse Diskussionen führen müssen, weil unser Gesundheitssystem sonst aus dem Ruder läuft“, betonte Karl Einhäupl am Mittwoch zur Eröffnung. Der Neurologie-Professor, ehemals Charité-Vorstandsvorsitzender und Vorsitzender des Wissenschaftsrates, nun Präsident des Hauptstadtkongresses Medizin und Gesundheit in Berlin, sagte zu Beginn der Veranstaltung vor rund 2000 Besuchern: Schwerpunkte seien deshalb der Fachkräftemangel und die Klinikreform – aber auch Anreizsysteme sowie die Sprengkraft von künstlicher Intelligenz (KI) in Medizin und Pflege, die ethische Fragen aufwerfe.
Wurden also kontroverse Diskussionen geführt auf diesem Kongress in den Messehallen des Hub27 im Westen Berlins, von Mittwoch bis Freitag? Wie man’s nimmt.
Ebenfalls zur Eröffnungsveranstaltung geladen war etwa Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats und durch zahlreiche Auftritte im TV während der Corona-Krise bekannt. Sie antwortete auf einen Impulsvortrag des emeritierten Charité-Professors Manfred Dietel, der eindrucksvoll die neuesten Hoffnungen in der Krebsmedizin mittels moderner und individuell auf den Patienten zugeschnittener Molekulardiagnostik und damit verbundener erfolgsversprechender Therapie beschrieben hatte, zugespitzt mit der Entgegnung: Und wer soll das alles noch bezahlen?
Auf den Einwand des Professors, dass ein Patient durch die Heilung von Krebs vielleicht noch 20 weitere Jahre leben und arbeiten könne und somit dem Staat auch Geld einbringe, erwiderte die Hochschullehrerin, dass diese Überlegungen in ihrem Fach, der Medizinethik, auch eingepreist würden. Dennoch müssten wir in Zukunft in Deutschland für die Gesundheitsbranche verstärkt „ethische Fragen“ stellen. Denn einerseits würden individuelle Behandlungsmöglichkeiten immer gängiger, zu teils extrem hohen Kosten. Auf der anderen Seite müssten diese Behandlungen von der Solidargemeinschaft finanziert werden. Das sei ein „unlösbares Problem“. Deshalb müssten wir „intensiver darüber nachdenken, wie viel wir für wen künftig ausgeben werden wollen“, sagte Buyx. „Das müssen wir sehr ehrlich und ernsthaft angehen.“ Na, das kann ja heiter werden.
Auch der prominente Gast aus der Politik, der zur Eröffnung geladen war, der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU), war zum Streiten aufgelegt: „Wo welche Versorgung in Zukunft stattfindet, entscheidet allein das Land und nicht der Bund. Der Bund entscheidet über die Vergütungsreform“, sagte Holetschek zur geplanten Klinikreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Deshalb sei es nun umso wichtiger, „um die Details zu ringen und so ein gemeinsames Gesetz mit Perspektive auf den Weg zu bringen“.
Und weiter: „Ein Bundesfinanzminister kann nicht entscheiden, wo welche Versorgung stattfindet. So wird jede Krankenhausinsolvenz zu einem Zufallsprodukt“, kritisierte er die Reformpläne. „Wenn wir jetzt nicht noch mal zusätzlich Geld ins System geben, wird es bitter für die Menschen in diesem Land, weil wichtige Versorgungsstrukturen zerstört worden sind.“ Angesichts möglicher Klinikschließungen warnte der Minister davor, „einem Haus zu sagen, dass es keine Qualität abliefert“. Das sei eine „Desavouierung“ der Mitarbeiter, die in den Krankenhäusern täglich ihr Bestes geben würden.
Dass die Politik „auf dem ambulanten Auge blind“ sei, betonte Nicola Buhlinger-Göpfarth als stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Hausarztverbands. „Während der Pandemie haben wir 95 Prozent der Corona-Erkrankten versorgt und fünf Prozent an Krankenhäuser überwiesen. Wir haben gezeigt, was wir gut können, nämlich steuern.“ Nun müsse es darum gehen, „gemeinsam sektorenverbindende Konzepte zu entwickeln“, sonst werde auch diese Reform scheitern. „Die Politik redet über uns, aber nicht mit uns“, sie scheine kein Interesse daran zu haben, die Versorgungsexpertise der Hausärzte miteinzubeziehen – denn in der Regierungskommission zur Klinikreform sitze kein einziger Vertreter der Hausärzte.
Zur Eröffnung der dreitägigen Veranstaltung gab es also halbwegs Zunder. Doch wie sah es auf den Panels aus? Der dreitägige Kongress soll Vertreter aus Politik, Verbänden, Gesundheitswirtschaft und -management sowie aus Wissenschaft, Medizin und Pflege zusammenbringen – mit rund 450 Rednern und 150 Ausstellern.
Zumindest im Ärzteforum bei der Fragerunde „Hinterfragt: Jeder 4. Klinikarzt erwägt Berufswechsel – warum?“ unter Leitung der Psychiaterin und Direktorin des Krankenhauses Alexianer St. Joseph Berlin-Weißensee, Iris Hauth, ging es schon auch zur Sache. Das lag vor allem an Jason Adelhoefer von der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd). Der junge Medizinstudent erklärte dem Publikum und seinen Mitdiskutanten durchaus von oben herab, dass seine Generation, die Generation Z, mitnichten gewillt sei, die derzeitige Belastung, die der Beruf des Klinikarztes mit sich bringe, überhaupt noch mitzutragen.
Wenn der einstige Traumjob Arzt nun die Ärzte selbst krank mache, sei es an der Zeit, das System grundsätzlich zu ändern – oder es zu verlassen. Die junge Generation lege deutlich mehr Wert auf gute Arbeitsbedingungen als ihre Eltern, und Klinikleitungen seien gut beraten, jungen Arbeitnehmern entgegenzukommen. Ansonsten würden sie sie halt verlieren. Deutschland könne nicht Ärzte aus der ganzen Welt herholen und die eigenen mit derart schlechten Arbeitsbedingungen vergraulen. Es sei „erschreckend, dass wir überhaupt darüber reden müssen“.
Dem entgegnete Karsten Honsel als Hauptgeschäftsführer der Alexianer GmbH, die bundesweit Kliniken und weitere Einrichtungen betreibt, dass in den vergangenen 20 Jahren das medizinische Personal immer weiter aufgestockt wurde, während die Patientenfälle immer weiter zurückgingen. „Wir haben seit 2012 20 Prozent mehr Ärzte, aber in der öffentlichen Diskussion findet das nicht statt. Wir hatten noch nie so viele Krankenhausärzte wie heute und auch noch nie so eine hohe Vergütung, aber wir führen immer nur diese Mangeldiskussion. Woran liegt das?“
Katastrophal sei allerdings der Umstand, dass viele Ärzte im Schnitt drei Stunden täglich mit Bürokratie zubringen müssten, was von ihrer eigentlichen Arbeitszeit abgehe. Da helfe auch die Digitalisierung nicht, „da muss die Politik uns helfen“. Doch im Übrigen sei das viel beklagte Thema Arbeitsbedingungen vor allem ein betriebliches Problem und müsse innerhalb der Betriebe gelöst werden, auch durch bessere Zusammenarbeit etwa zwischen Medizin und Pflege, meinte Honsel.
Peter Bobbert von der Ärztekammer Berlin erinnerte daran, dass mehr Stellen und höhere Vergütung nur Folgen des Arbeitskampfes seien, „sodass 2012 endlich auch bei uns europäisches Recht durchgesetzt wurde“, dass Ärzte Pausen bräuchten und ordentlich zu bezahlen seien. „Wenn das Output trotzdem so schlecht ist, dann muss an diesem System was falsch sein“, sagte Bobbert. Es liege nicht an den Ärzten, die gut ausgebildet und hoch motiviert seien. „Aber wir nehmen ein System nicht hin, das unseren geliebten Beruf kaputt macht. Deshalb stimmt mich diese junge Generation sehr optimistisch.“
Zuvor hatte Susanne Johna vom Marburger Bund referiert, dass unter ihren Mitgliedern bei einer Befragung zuletzt ein Viertel der Ärzte angegeben hatte, den Beruf ganz aufgeben zu wollen. 75 Prozent fühlen sich durch Stress überlastet.
Doch nicht nur die Lage der Ärzte oder medizinische Fragen werden auf dem Kongress erläutert. Denn da sind ja noch ganz viele Anbieter, die für ihre Produkte werben wollen. Die Gesundheitsbranche ist ein relevanter Player in der deutschen Wirtschaft. 2022 betrug die Bruttowertschöpfung der Gesundheitswirtschaft laut Gesundheitsministerium knapp 440 Milliarden Euro. Das sind 12,7 Prozent der Gesamtwirtschaft Deutschlands. Seit 2013 ist die Zahl der in der Gesundheitswirtschaft Beschäftigten um 1,4 Millionen gestiegen – auf acht Millionen Menschen.






