Kommentar

Personalmangel durch Impfpflicht? Fragen Sie Ihre Nachbarn!

Kein Scherz: Die Bundesregierung will Nachbarn dafür bezahlen, dass sie die zu erwartenden Lücken in der häuslichen Pflege schließen. Ob geimpft oder ungeimpft.

Die häusliche Pflege würde zusammenbrechen, würden Angehörige sie nicht auf eigene Kosten aufrechterhalten. Durch die Impfpflicht wird dieser prekäre Bereich weiter belastet.
Die häusliche Pflege würde zusammenbrechen, würden Angehörige sie nicht auf eigene Kosten aufrechterhalten. Durch die Impfpflicht wird dieser prekäre Bereich weiter belastet.dpa

Man reibt sich verwundert die Augen: Was hat der Spiegel da wie nebenher in einer Meldung verwurstet? Dass die Bundesregierung vorsehe, dass aufgrund der zu erwartenden Engpässe in der pflegerischen Versorgung nach Einführung der Impfpflicht für Pflegekräfte die Pflege im häuslichen Bereich künftig durch Nachbarn aufrechterhalten werden solle? Ja, richtig gelesen: Ihre Nachbarn sollen jetzt Ihre pflegebedürftigen Angehörigen versorgen. Die Politik ist zwar eigentlich dafür zuständig, die professionelle Versorgung in der Pflege sicherzustellen, aber die Politik ist ja nun gerade mit der Einführung der Impfpflicht beschäftigt – und deren Tücken, die sie teils selbst geschaffen hat.

Das Ganze ist kein Scherz, auch kein schlechter. Auf eine Anfrage der Linken schrieb das Gesundheitsministerium wörtlich: „Zur Vermeidung von pflegerischen Versorgungsengpässen im häuslichen Bereich können Pflegekassen für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 nach ihrem Ermessen Kostenerstattung in Höhe der ambulanten Sachleistungsbeträge“ gewähren. Damit sei „eine flexible Möglichkeit bereitgestellt, um coronabedingte Versorgungsengpässe bei der Pflege zu Hause besser aufzufangen“. Mit den Mitteln könne „Ersatz bis hin zur Unterstützung durch Nachbarn organisiert werden“, so die Bundesregierung. Ein Aufschrei blieb aus. Man fragt sich, warum.

Die Antwort muss lauten: Die häusliche Pflege ist eh völlig vernachlässigt. Da kommt es auf diese Unverschämtheit nun auch nicht mehr an. Sie ist nur das Tüpfelchen auf dem i.  Man fragt sich eh, wie die bis zu zehn Millionen Angehörigen das schaffen. Wie sie den Großteil der Pflege in Deutschland wuppen, Dreiviertel der über vier Millionen Pflegebedürftigen werden zuhause gepflegt, die meisten sowieso schon ohne professionelle Unterstützung, ganz ohne Lohn, neben ihrem eigenen Job, oder im hohen Alter, oder während sie selbst krank werden durch ständige Überlastung. Während sie erleben, dass ihre Kollegen aus der professionellen Pflege, in den Kliniken und Heimen sind es deutschlandweit eine Million Pflegekräfte, für ihre eigenen Arbeitsbedingungen zunehmend kämpfen und auf die Straße gehen – zwar auch nicht mit durchschlagendem Erfolg, aber immerhin mit erstrittenen Lohnerhöhungen. Die häusliche Pflege hingegen ist für die Öffentlichkeit unsichtbar. Das wird der Grund sein, warum die Politik sie so sträflich vernachlässigt. Familienangehörige haben nach wie vor gratis für ihre Pflegebedürftigen einzustehen – und das im Schnitt über viele Jahre, mit 50 Arbeitsstunden pro Woche – pro Patient!

Diejenigen, die sich bisher professionelle Hilfe dazugeholt haben, sei es durch einen Pflegedienst oder sonstige Pflegehelfer, dürfen also nun ihre Nachbarn darum bitten –und diese sollen sogar dafür Geld bekommen dürfen. Wie gnädig, dass die Bundesregierung diese Nothelfer von nebenan, die selbst noch nichts von ihrem Glück wissen, so großzügig entlohnen möchte: Ins Ermessen der Pflegekassen wird gestellt, in welchem Umfang diese Entlohnung geschieht. Lassen Sie mich Ihnen ein Geheimnis verraten: Pflegekassen gehören nicht zu den spendabelsten sogenannten Leistungsträgern.

Wenn Sie also künftig davon betroffen sein sollten, dass Ihre Angehörigen oder Sie selbst die Hilfe Ihrer Nachbarn benötigen, weil ungeimpfte Pflegekräfte nicht mehr zur Arbeit kommen dürfen, dann fragen Sie doch Ihre ungeimpften Nachbarn (denn diese sind ja nicht von der einrichtungsbezogenen Impfpflicht betroffen) bitte möglichst unterwürfig, ob sie womöglich einen Teil Ihrer Pflege, sagen wir nur 25 Stunden wöchentlich, für einen noch mit der Kasse auszuhandelnden Preis übernehmen würden. Und nehmen Sie dann schnell die Beine in die Hand – falls Sie dazu körperlich noch in der Lage sind.

Fragt man einen Experten, was er von dieser Neuregelung hält, ist die Antwort nicht minder eindeutig: „Nichtgeimpfte ohne pflegerischen Sachverstand als Ersatz für Pflegehelfer in die Haushalte zu schicken, ist in der aktuellen Lage völlig absurd“, so der Rechtswissenschaftler, Sozialexperte und Pflegeforscher, Thomas Klie. Und er ergänzt, nicht ohne Bitterkeit: „Gute Fahrt durch Omikron!“ Dem ist wenig hinzuzufügen.

Vielleicht dies noch: „Man gefährdet die Sicherstellung der Versorgung“, sagt Professor Klie der Berliner Zeitung, und dies nicht nur im häuslichen Bereich: Es hieße zwar immer zur Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht, es seien 90 Prozent der Pflegekräfte bereits geimpft, doch gilt das längst nicht für alle Einrichtungen und ist regional höchst unterschiedlich: In einigen Häusern betrage die Impfquote der Pflegekräfte 96 Prozent, in anderen 60 – und in anthroposophischen Häusern gar nur 50 Prozent, so Klie. Das sei ein echtes Problem auch für die Behindertenpflege nach Einführung der Impfpflicht, dort werden schlicht die Pflegekräfte fehlen.

Aber die werden ja schließlich auch Nachbarn haben, kann sich die Politik nun trösten.