Kolumne

Ist meine Vergesslichkeit krankhaft oder ein Zeichen von Intelligenz?

Das menschliche Kurzzeitgedächtnis kennt pfiffige Tricks, entdeckt unser Autor und stellt sich mal wieder selbst eine Diagnose.

Ein Mann im Zentrum eines Labyrinths. Manchmal verirrt sich unser Autor in seinen eigenen Gedanken.
Ein Mann im Zentrum eines Labyrinths. Manchmal verirrt sich unser Autor in seinen eigenen Gedanken.imago/blickwinkel

Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt – Dunning-Kruger-Effekt. Und das kam so: Neulich erhielt ich eine Mail von einem gewissen Dings – na, wie hieß er noch gleich? Oder war es eine Sie? Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube, er oder sie war nicht ganz einverstanden mit dem, was ich in der Dings hier – sag schon – Kolumne, genau: was ich da so alles reinschreibe und womöglich selbst auch noch lustig finde. Nun ja, was soll’s? Zum einen Auge rein, zum anderen raus. Das ist eigentlich nicht meine Art, aber in letzter Zeit vergesse ich schon mal dieses oder jenes. Gelegentlich sogar unverschämte Mails.

Richtig unangenehm ist es, in den Supermarkt zu gehen, und der Einkaufszettel befindet sich zu Hause auf dem Küchentisch, im Kühlschrank oder zwischen den Seiten 1543 und 1544 von Tolstois „Dings und Frieden“. Die Hälfte fehlt dann auf dem Fließband an der Kasse, doch unangenehm ist die Schusseligkeit nicht für mich, sondern für die Leute hinter mir in der Schlange. Die schauen genervt zur Decke oder strafend zu mir rüber, was ich allerdings schon nach Bruchteilen von Sekunden vergessen habe, weil ich mich auf die Suche nach meiner EC-Karte konzentriere.

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Berliner Zeitung/Paulus Ponizak
Hypochonder-Glosse
Christian Schwager ist Redakteur für Gesundheit und schreibt alle zwei Wochen an dieser Stelle über seine eingebildeten Krankheiten.

Glücklicherweise habe ich das Ergebnis eines neurologischen Selbsttests stichwortartig im Smartphone hinterlegt, das ich stets bei mir trage. Wegen meiner Nomophobie, aber das ist ein anderes Thema. Ich weiß nicht mehr, wo genau, jedenfalls habe ich den Test zur Fragestellung „Ist meine Vergesslichkeit krankhaft?“ auf irgendeiner Seite im Internet gemacht, nachdem ich zu meiner Überraschung die Mail von Herrn oder Frau Dings im Postfach wiederentdeckt hatte. Das Wort „Kurzzeitgedächtnis“ habe ich im Handy notiert und: „Nix Schlimmes, nur extreme Intelligenz“.

Wenn ich das lese, fallen sie mir wieder ein, die zwei Forscher aus Toronto, Paul Frankland und Blake Richards. Stimmt, das sind ihre Namen. Komisch, aber die wirklich entscheidenden Dinge merke ich mir dann eben doch. Das ist ja auch die Hypothese der beiden kanadischen Wissenschaftler, die vermuten, dass ein besonders effizientes Gehirn den ganzen alten Firlefanz von seiner Festplatte löscht, um Platz für dringende Sachen zu schaffen. „Hippocampus“, habe ich notiert: „Region im Gehirn für Erinnerungen. Tolle Erfindung!“

Spontan habe ich mein zerebrales Zwischenhoch für eine weitreichende Recherche mittels Suchmaschine genutzt. Die Eingabe der gefühlt persönlich gefärbten Begriffe „überragende Klugheit“ und „korrekte Selbsteinschätzung“ brachte mich schließlich auf den Dunning-Kruger-Effekt. Wie ich las, sorgt der dafür, dass pfiffige Menschen sich permanent unterschätzen. Mit dieser Diagnose kann ich gut leben.

Stutzig machen mich allerdings Ratgeberseiten aus dem Bereich Personalmanagement, die der Meinung sind, der Dunning-Kruger-Effekt bedeute genau das Gegenteil. Nämlich, dass sich Menschen mit geringen Fähigkeiten unverhältnismäßig gut beurteilen. Ich zitiere mal aus dem medizinischen Fachorgan wikipedia.org: „Sie neigen dazu, sich selbst zu überschätzen, weil sie den qualitativen Unterschied zwischen ihren Leistungen und den Leistungen anderer nicht erkennen können.“ Oder populärwissenschaftlich formuliert: Sie sind zu blöd, um zu bemerken, dass sie blöd sind.

Das erinnert mich an etwas. War neulich. Hatte ich nicht vorhin noch davon erzählt?