Was passiert, wenn wir sterben? Diese Frage stellen sich viele Menschen. Im Internet findet man viele Berichte über Nahtoderfahrungen. Menschen, die einen Herzstillstand erlitten hatten oder in ein künstliches Koma versetzt wurden, schildern ganz besondere Erlebnisse.
Dazu gehören Lichtphänomene am Ende eines tunnelartigen Gebildes, die Begegnung mit bereits Verstorbenen, eine Art Glücksgefühl sowie das Empfinden, über dem eigenen Körper zu schweben. Ein Drittel der Betroffenen erzählt von einer sogenannten Lebensbilderschau – „als ziehe das eigene Leben noch einmal vor dem inneren Auge vorbei“.
Eine Reihe von Studien ist zu diesem Thema bereits erschienen. So schrieben Forscher in einer US-Studie 2013 zum Beispiel, dass etwa 20 Prozent der Überlebenden eines Herzstillstands über Nahtoderlebnisse berichteten. So etwas gebe es weltweit. Eine Studie des Soziologen Hubert Knoblauch von der TU Berlin hatte kurz vor der Jahrtausendwende festgestellt, dass sich Nahtoderfahrungen auch in Bezug auf kulturelle Variablen, Religionszugehörigkeit und Herkunft unterschieden.
15 Minuten Hirnaktivität beim Sterben festgehalten
In Rattenversuchen konnten Neurowissenschaftler der University of Michigan bereits 2013 feststellen, dass die elektrische Aktivität des Gehirns nach einem Herzstillstand ganz besonders aktiv ist. Bei Hirnstrommessung mittels Elektroenzephalografie (EEG) zeigte sich eine „hochfrequente neurophysiologische Aktivität im Nahtodzustand“, die die Werte überstiegen habe, „die während des bewussten Wachzustands gefunden wurden“. Um so etwas zu messen, müssen Elektroden an der Kopfhaut befestigt sein. Dies passiert beim Menschen, wenn zum Beispiel das Schlafverhalten monitort oder Epilepsie und andere neurologische Krankheiten diagnostiziert werden sollen – doch so gut wie nie im Augenblick des Sterbens.
Durch einen unglücklichen Zufall haben Wissenschaftler nun die Hirnaktivität eines sterbenden Menschen aufgezeichnet. In den USA operierten Ärzte einen 87-jährigen Mann, der durch einen Sturz ein subdurales Hämatom – also eine Schädelblutung – erlitten hatte. Wegen epileptischer Anfälle nach der OP wurde die elektrische Aktivität des Gehirns per EEG aufgezeichnet. Während einer solchen Aufzeichnung erlitt der Patient einen Herzinfarkt und starb. Insgesamt, so berichten die Wissenschaftler im Fachblatt Frontiers in Aging Neuroscience, wurden 15 Minuten der Hirnaktivität beim Sterben des Mannes festgehalten. Es sei die „unseres Wissens erste kontinuierliche EEG-Aufzeichnung des menschlichen Gehirns in der Übergangsphase zum Tod“, schreiben die Wissenschaftler.
„Wir haben uns darauf konzentriert, was in den 30 Sekunden vor und nach dem Herzstillstand geschah“, sagt der Studienleiter Ajmal Zemmar, Neurochirurg an der University of Louisville im US-Bundesstaat Kentucky. „Kurz bevor und nachdem das Herz aufhörte zu schlagen, sahen wir Veränderungen in einem bestimmten Frequenzbereich der neuronalen Schwingungen, den sogenannten Gamma-Oszillationen, aber auch in anderen wie Delta-, Theta-, Alpha- und Beta-Oszillationen.“
Gehirn schafft sich eigene Bilderwelten in vielen Situationen
Die verschiedenen Wellen werden mit diversen Funktionen des Gehirns verbunden, wobei die in der Studie beschriebenen Frequenzmuster jenen ähnelten, die beim Meditieren oder beim Abruf von Erinnerungen aufträten, so das Ergebnis der Messungen. Das lege nahe, schlussfolgert Ajmal Zemmar, dass das Gehirn kurz vor dem Tod durch Erzeugung solcher Oszillationen möglicherweise letzte Erinnerungen an wichtige Lebensereignisse abspiele – „wie bei Nahtoderfahrungen“.
Andere Wissenschaftler zeigen sich davon nicht überrascht. „Es ist nichts Neues, dass sich das menschliche Gehirn in bestimmten Situationen seine eigenen Bilderwelten schafft“, sagt etwa Frank Erbguth, ärztlicher Leiter der Klinik für Neurologie am Klinikum Nürnberg. Das sei unter anderem von Migränepatienten bekannt, aber auch von Drogenkonsumenten. „Entsprechend reihen sich Nahtoderlebnisse in eine Reihe unterschiedlichste Phänomene ein, bei denen das Gehirn Bilder produziert“, sagt der Präsident der Deutschen Hirnstiftung. Forschern zufolge gehören dazu auch schwere Krankheiten, die nicht unmittelbar lebensbedrohlich sind, schwere Depressionen und Meditationen.
Was beim Sterben im Hirn passiere, sei gut erklärbar, sagt Erbguth. Der Kohlendioxidgehalt in den Zellen steige an. „Das führt zu einer Veränderung der Hirnelektrik und des Hirnstoffwechsels – auf diesen beiden Klaviaturen werden Nahtoderlebnisse verortet“, sagt er. Solche Erlebnisse könnten auch Menschen erfahren, die besonders gut im Meditieren sind. Auch hier zeige das EEG vermehrte Gamma-Spektren – ähnlich jenen, von denen die Studie berichtet. „Und von diesen Gamma-Aktivitäten wissen wir, dass sie einen Abruf von Erinnerungen anzeigen.“
Gleichzeitig seien Gamma-Wellen sehr schnell, sie oszillierten mit einer Geschwindigkeit von 30 Hertz pro Minute, so der Neurologe. „In einem konventionellen EEG ist das Gamma-Band nicht zu sehen.“ Daher sei die in der Studie unternommene differenzierte Auswertung der Wellenbereiche ein neuer Aspekt.
Eine biologische Reaktion, die vielleicht bei allen Arten gleich sein könnte
Auch in der bereits erwähnten Rattenstudie der University of Michigan von 2013 war nach dem Herzstillstand „ein vorübergehender Anstieg synchroner Gamma-Oszillationen“ beobachtet worden. Dies deute auf die Möglichkeit hin, dass das Gehirn beim Sterben eine biologische Reaktion ausführe, die bei allen Arten gleich sein könnte, erklären die Autoren der aktuellen Studie. Allerdings beruht diese Studie auf EEG-Aufnahmen von einem einzigen Patienten, dessen Gehirn verletzt war und der zudem unter epileptischen Anfällen litt. „Solche epileptischen Aktivitäten bedeuten, dass die Hirnelektrik richtig durchgeschüttelt wird“, sagt Frank Erbguth. Es sei schwierig, daraus Schlüsse für das sterbende Hirn generell zu ziehen.
Nach Ansicht des Neurologen liefert die Studie eine weitere Facette für das Wissen zum sterbenden Gehirn. Dieses sei allerdings bereits jetzt umfassend: Wenn der Blutkreislauf stillsteht, stellt das Gehirn die Kommunikation zwischen den Nervenzellen ein. Dadurch verschieben sich bestimmte Rhythmen der Hirnelektrik. Die Zellen haben noch einmal einen elektrischen Output.
Dies geschieht in Form einer sich ausbreitenden Entladungswelle. Über diese hat ein Forscherteam bereits 2018 im Fachblatt Annals of Neurology berichtet. Wissenschaftler um Jens Dreier vom Centrum für Schlaganfallforschung Berlin (CSB) der Berliner Charité hatten gemeinsam mit US-Kollegen untersucht, wie das Gehirn auf Energiemangel reagiert, „um die für die Wiederbelebung verfügbare Zeit bis zu irreversiblen Schäden vorherzusagen und die Entwicklung von Interventionen voranzutreiben, die diese Zeitspanne verlängern“, wie es in der Studie heißt. Die Forscher werteten dafür Fälle aus der Neurointensivmedizin aus. Hier werden schwer kranke Patienten besonders überwacht – per Sauerstoffmessung und mit Elektroden direkt am offenen Gehirn.
Auf diese Weise konnten nicht nur epileptische Anfälle sehr präzise erfasst werden, sondern auch die „anoxische Depolarisation“, wie die Forscher schrieben. Diese beginne zwei bis fünf Minuten nach dem Beginn einer schweren Ischämie, also einer akuten Sauerstoffunterversorgung. Einer früheren Berliner Studie zufolge handle es sich um „einen fast vollständigen elektrischen Kurzschluss zwischen Zellinnen- und -außenraum sowie morphologisch und biochemisch ein zytotoxisches Ödem“. Die Welle breite sich langsam (1 bis 9 mm/min) durch die graue Substanz des Gehirns aus. Gelinge es nicht, solche Wellen – auch „Spreading Depolarizations“ genannt – über eine Therapie der Ursachen einzudämmen, führten sie über „Schadenskaskaden“ zum Zelltod. Dies hätten Tierversuche gezeigt.
„Wir konnten nachweisen, dass die terminale Spreading Depolarization bei Mensch und Tier vergleichbar ist“, erklärte Autor Jens Dreier zur Studie von 2018. Nach einem Kreislaufstillstand komme es innerhalb weniger Minuten zu dieser letzten Welle, wie die Überwachungsdaten Verstorbener zeigten.
Nahtoderfahrungen mit ganz verschiedenen Emotionen
Von solchen Nahtod-Studien verspricht sich so mancher einen Blick hinter den Vorhang des Todes. „Doch alles, was wir uns anschauen, spielt sich vor dem Vorhang ab“, erklärt der Nürnberger Neurologe Frank Erbguth. Selbst Menschen mit Nahtoderfahrungen seien dem Tod eben nur nahe gewesen. Dennoch zieht Ajmal Zemmar, Neurochirurg aus Louisville, Hoffnung aus seiner aktuellen Studie. Er sagt: „Was wir aus dieser Forschung lernen können, ist: Auch wenn unsere Lieben ihre Augen geschlossen haben und bereit sind, zur Ruhe zu kommen, spielt ihr Gehirn vielleicht noch einmal einige der schönsten Momente ab, die sie erlebt haben.“
„Unser Gehirn ist zumindest in der Lage, noch einmal Bilder zu produzieren“, sagt Frank Erbguth etwas nüchterner. Allerdings ergäben Studien aus der Reanimationsmedizin, dass zwar zwei Drittel der Menschen mit einer Nahtoderfahrung angenehme Bilder gesehen hätten, ein Drittel aber von schlimmen Szenen berichtet habe.
Ähnliches ergab auch die bereits erwähnte Studie des TU-Soziologen Hubert Knoblauch von 2001. Er zeigte als Ergebnis einer Befragung von 2044 Menschen, dass die Bilder, die das Gehirn produziert, eng an Kultur, Religion und Erfahrungen der Menschen geknüpft sind. Insgesamt berichteten vier Prozent der Befragten Deutschen von einer Nahtoderfahrung in ihrem Leben – davon 50 Prozent mit positiven, 43 Prozent mit negativen Emotionen. „Ich wäre zufrieden, wenn das Hinübergehen in den Tod von schönen Erlebnissen begleitet wird“, so Erbguth. „Ich fürchte aber, dass man das nicht in der Hand hat.“ (mit dpa/fwt)






