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Darum fühlen sich Berlins Arztpraxen im Stich gelassen

Niedergelassene Mediziner leisten im Kampf gegen die Corona-Pandemie Schwerstarbeit. Personal kündigt. Einen Pflegebonus für sie gibt es aber nicht.

Eine Ärztin im Beratungsgespräch mit einer Patientin vor der Booster-Impfung. Die Pandemie belastet Berlins Praxen stark.
Eine Ärztin im Beratungsgespräch mit einer Patientin vor der Booster-Impfung. Die Pandemie belastet Berlins Praxen stark.imago/Mierendorf

Berlin - Hanns Iblher ist Allgemeinmediziner, seine Praxis liegt in Karlshorst, und wenn er sich etwas wünschen dürfte nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie, dann wäre das: „Dass der ambulante Bereich mehr wertgeschätzt wird. Diese Wertschätzung sollte nicht nur in Gesten und Worten ausgedrückt werden, sondern auch mit einer finanziellen Motivation.“

Es ist Donnerstagvormittag, im Bundestag fällt gerade die allgemeine Impfpflicht durch. Gegen Abend wird ein Gesetz verhandelt, in dem es um eine einmalige Prämie für Beschäftigte im Gesundheitswesen geht. Eine Milliarde Euro insgesamt für ausgesuchte Fachkräfte in Kliniken und der Altenpflege. Mehr als eine Million Menschen arbeiten in der Pflege. Prämien für das Personal von Praxen sind in dem Entwurf nicht vorgesehen. Sie gehen leer aus. Doch Hausarzt Iblher sagt: „Wir sind es wert.“

Niedergelassene Ärzte Berlins sehr stark belastet

Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin (KV) kann das jetzt auch mit Zahlen belegen. Sie hat knapp 1600 niedergelassen Mediziner und Therapeuten online befragt. 89 Prozent der Studienteilnehmer gaben an, die Arbeitsbelastung sei mit dem Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 gestiegen, für 63 Prozent sogar deutlich.  Besorgniserregend ist auch dieses Ergebnis: Fast ein Drittel des Praxispersonals hat in der Corona-Krise gekündigt, 39 Prozent davon wegen der sich zuspitzenden Situation am Arbeitsplatz.

Hanns Iblher kann das nachvollziehen. Auch wenn die beiden Mitarbeiterinnen, die seit 2020 aufgehört haben, dies nicht wegen der hohen Belastung durch Corona taten. „Wenn am Tag hier eintausend Mal das Telefon klingelt, wenn sehr viele E-Mails eingehen, ist das eine Grenzerfahrung. Und irgendwann ist dann auch mal Schluss.“ Laut Umfrage der KV fanden es 63 Prozent der Befragten sehr belastend, durch pausenloses Telefonklingeln und Anfragen per E-Mail unterbrochen worden zu sein. 53 Prozent setzte die Erwartungshaltung der Patienten zu. 34 Prozent störte dabei deren aggressives Verhalten, das während der Pandemie zugenommen habe.

Manchmal riefen in Iblhers Praxis Patienten an, die über Medien besser informiert waren als die Mitarbeiterinnen über die offiziellen Kanäle. Der Ärger auf die Politik in der niedergelassenen Ärzteschaft ist deshalb groß. 70 Prozent der Befragten fühlten sich durch ständig wechselnde Verordnungen und Gesetze in ihrer Arbeit extrem gestört. „Wir müssen uns auf die Kommunikation fokussieren“, sagt Bettina Gaber, Frauenärztin und Vorstandsmitglieder der KV Berlin. „Wenn die Kommunikation in Zukunft besser läuft, haben wir sehr viel gelernt. Wir müssen besser und strukturierter zusammenarbeiten.“

Weniger Aktionismus, soll das wohl heißen. Gar nicht so einfach in einer völlig neuartigen Situation, sagt Thomas Götz, selbst Mediziner und Staatssekretär in der Berliner Gesundheitsverwaltung von Senatorin Ulrike Gote. Das mit dem Lernen will Götz zum Programm machen. Deshalb hat er die Umfrage der KV sehr interessiert zu Kenntnis genommen. „Ein ganz klarer Ruf nach lessons learned“, sagt er. Zum Beispiel, was die Vorratshaltung für künftige Pandemien angeht. 41 Prozent der befragten Praxen sahen sich zu Beginn der Pandemie dadurch sehr belastet, dass sie Schutzkleidung organisieren mussten. „Solche Reserven müssen wir wieder anlegen“, sagt Götz.

Allgemeinmediziner Iblher erinnert sich daran, dass eines Tages ein großer Betreiber von Kindertagesstätten in der Praxis auftauchte und Kartons mit Masken, Überzügen und Desinfektionsmitteln spendete. „Das ist definitiv ein positiver Aspekt, der sich aus der Pandemie ziehen lässt“, sagt der Arzt. Der Zusammenhalt in der Bevölkerung sei gewachsen. Das Verständnis der politisch Verantwortlichen wuchs offenbar nicht schnell genug mit.

Burkhard Ruppert hat als Vorstandsvorsitzender der KV Berlin Kommentare aus Praxen gesammelt. Sie lauten: „Die Politik hat uns nicht unterstützt und immer wieder Verwirrung gestiftet.“ Oder: „Der ambulante Bereich wurde von der Politik komplett vergessen.“ Ruppert fasst zusammen: „Die große Mehrheit der Befragten glaubt nicht, dass die Leistungen der Praxen richtig eingeschätzt wurden.“

Die nächste Pandemie kommt nicht erst in 100 Jahren, sagt Ruppert. Die aktuelle Pandemie ist noch nicht einmal überwunden. „Was Long Covid angeht“, sagt der KV-Chef, „rollt eine riesige Welle auf die Praxen zu.“ Und auch die Last künftiger Impfkampagnen werden sie alleine tragen. Im aktuellen Gesetzentwurf zum Pflegebonus wurde das offenbar vergessen.