Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt – Alien-Hand-Syndrome. Und das kam so: Wir schauten Fußball, die Weltmeisterschaft, ein bisschen nur, Ehrenwort. Es gab Getränke nach Wahl und fettiges Naschwerk. Leider handelte es sich um einen freudlosen Kick, dessen Teilnehmer hier nichts zur Sache tun. Ohnehin stand vor dem Bildschirm schon bald nicht mehr die Frage zur Debatte, ob das Team links auch mitmachte oder lediglich als Dekoration herhielt. Stattdessen arbeitete sich die Aufmerksamkeit an meinen Ernährungsgewohnheiten ab.
Ich wurde bezichtigt, eine ganze Tüte Chips verzehrt, ja regelrecht in mich hineingeschaufelt zu haben. Das fand ich unerhört. Den Vorwurf, nicht das Schaufeln, denn davon konnte keine Rede sein. Schließlich hätte ich als mutmaßlicher Schaufler etwas davon bemerken müssen. Das aber hatte ich nicht, was keineswegs an den Getränken nach Wahl gelegen haben konnte, wie gehässigerweise behauptet wurde.
Seltsam allerdings, dass sich in meiner Nähe zwei Chipstüten befanden, die eine geleert, die andere angebrochen. Vielleicht war ja doch etwas dran. Vielleicht war ich nicht ganz normal, ernsthaft erkrankt sogar.
Die Partie lief unbeirrt weiter; das Team rechts in Ballbesitz, rasch auf der anderen Seite, die dortige Abwehr unter Druck. Ich griff zum Smartphone, gab vor, mich über diesen Fliegenfänger im linken Tor zu informieren. Tatsächlich tippte ich in die Suchmaschine die Schlagworte „unbewusst“, „Hand“ und „Krankheit“, gelangte auf die Seite einer populärwissenschaftlichen Monatszeitschrift und murmelte: „Das ist ja schrecklich!“ Den Blick aufs Spielfeld gerichtet, bestätigte meine Sitznachbarin: „Das kann man wohl sagen.“
Alien-Hand-Syndrom: Wenn man sich selbst an die Gurgel geht
Offensichtlich litt ich an etwas, das sich Fremde-Hand-Syndrom nennt, im Fachjargon AHS, abgekürzt für Alien-Hand-Syndrom. Wahrscheinlich funktionierte mein Frontallappen nicht richtig, jedenfalls lief in meinem Kopf nicht alles nach Plan, weil der einen Hirnhälfte verborgen blieb, was die andere veranstaltete. Der Hinweis, dass diese Art Störung extrem selten auftritt, gab mir letzte Gewissheit: Ich hatte AHS. Es war ja genau so: Die Hand führte Bewegungen aus, die ich als ihr Eigentümer gar nicht ausführen wollte, die ich als „fremd, seltsam oder zumindest unkooperativ“ empfand.
Außerdem stand da noch, dass sich AHS manchmal nur durch ein Zucken äußere, allerdings Greifreflexe üblich seien, mitunter „gegen den Besitzer gerichtete Handlungen“ vorkommen würden. Das wurde ja immer schlimmer! Nicht auszudenken, was meine Hand sonst noch anstellte, wenn ich gerade mal nicht da war. Geistig, meine ich.

Möglicherweise würde ich demnächst beim Klauen erwischt, einen Kollegen ohrfeigen, während einer Besprechung ausführlich in der Nase bohren oder mich auf offener Straße selbst erwürgen. Möglicherweise würde ich aber auch einen sinnvollen Artikel schreiben, einen Bestseller in die Computertastatur tippen oder Chopins „Préludes“ auf dem Flügel intonieren. Alles einhändig, versteht sich. Dieser Gedanke beruhigte mich dann doch ein wenig. Ebenso die Information, dass die Beschwerden mit der Zeit oft von selbst abklingen.


