Es war ein Hilferuf, den Beschäftigte der Vivantes-Kliniken unlängst aussandten. Die Rettungsstellen des landeseigenen Konzerns würden unter einem gefährlichen Personalmangel leiden, beklagten sie. Josephine Thyrêt unterbreitete einen Vorschlag, wie die Krise kurzzeitig zu entschärfen sei. Die Betriebsratsvorsitzende von Vivantes sagte: „Wir brauchen dringend die Unterstützung von Leasingkräften.“ Zeitarbeitsfirmen stellen sie zur Verfügung.
Thyrêts Vorstoß lässt ein Dilemma erkennen. Der Pflege in Deutschland laufen die Fachkräfte weg. Wenn sie ihren Beruf nicht ganz aufgeben oder sich in Teilzeit verabschieden, kommen sie in Leasingfirmen unter, wo sie ihre Arbeitszeit freier einteilen können und meist mehr verdienen. In Berlin ist inzwischen jede zehnte Pflegekraft im Krankenhaus eine Leihkraft. Das verschärft die Lage der Festangestellten. Sie müssen die Springer einarbeiten, deren Arbeit kontrollieren und Aufgaben übernehmen, die die Kollegen nicht leisten können oder wollen. Einerseits, andererseits helfen Leasingfirmen, akute Engpässe zu bewältigen. Ohne ihre Hilfe, meinen Thyrêt und Kolleginnen, geht es im Moment nicht.
„Zeitarbeit bedeutet für die meisten Pflegekräfte nicht die Erfüllung ihrer Berufsträume“, sagt Lutz Schumacher. Der Professor für Pflegemanagement an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin hat am Dienstag an einer Diskussion zum Thema Zeitarbeit in der Pflege teilgenommen, initiiert von der Berliner Krankenhausgesellschaft (BKG). „Vielmehr fliehen sie vor den belastenden Arbeitsbedingungen im Krankenhaus“, so Schumacher.
Das Dilemma lässt sich in Zahlen fassen. Allein für Berlin prognostiziert das Deutsche Krankenhausinstitut (DKI) bis 2030 einen zusätzlichen Bedarf von 10.000 Beschäftigten in der Pflege kranker und alter Menschen. Für die gesamte Bundesrepublik sagt das Institut der Deutschen Wirtschaft bis 2035 einen Mangel in der stationären Pflege von 307.000 Mitarbeitern voraus.
Zeitarbeit wird für Krankenhäuser teurer
Dagegen nimmt die Zahl der Pflegebedürftigen stetig zu. Mehr als vier Millionen sind es derzeit, was einer Zunahme von 70 Prozent seit der Jahrtausendwende entspricht. Machten die Pflegebedürftigen 2001 noch einen Anteil von 2,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung aus, so sind es inzwischen rund fünf Prozent.
Zeitarbeit galt Krankenhausträgern als attraktive Strategie, doch nicht nur ihnen. Mehr als 23.000 Menschen sind auf diese Weise in der Gesundheits- und Krankenpflege, der Geburtshilfe und im Rettungsdienst beschäftigt. In Berlin geht man von rund 400 Leasingfirmen aus, die Personal vermitteln. Doch für Klinikträger verliert das Modell an Attraktivität. Die Kosten für Zeitarbeit sind zuletzt stark gestiegen, laut BKG um mehr als das Doppelte. Gleichzeitig „können die zusätzlichen Zeitarbeitskosten nicht mehr im Pflegebudget geltend gemacht werden“, hält die Interessenvertretung fest. Die Leasingfirmen wiederum würden die angespannte Lage nutzen, um die Preise zu diktieren.
„Zeitarbeit ist für die Krankenhäuser punktuell sinnvoll, um kurzfristige Personalausfälle zu kompensieren“, sagt dann auch Karl Blum, beim DKI für den Bereich Forschung verantwortlich. „Im jetzigen Ausmaß verursachet sie aber hohe Zusatzkosten und gefährdet den sozialen Frieden in der Belegschaft.“ Leasingkräfte können ihre Dienstpläne freier gestalten und erhalten meist mehr Lohn. „Bessere und auskömmlich refinanzierte Personalschlüssel in der Stammbelegschaft sind das beste Mittel, um die Zeitarbeit einzudämmen“, sagt Blum.
Das DKI befragt Allgemeinkliniken ab 100 Betten regelmäßig, auch zur Leiharbeit. Demnach wandern Festangestellte vor allem wegen der hohen Arbeitsbelastung in die Zeitarbeit ab. „Das Grundübel ist der schlechte Personalschlüssel“, sagt Blum. Eine der negativen Folgen: „Der Teamgeist leidet, wenn zu viele Leiharbeitskräfte beschäftigt sind.“ Das folgert auch Schumacher aus Studien. Es kann leichter zu Fehlern kommen. Je mehr Leasingkräfte in einer Schicht arbeiten, desto höher die Wahrscheinlichkeit, erläutert der Professor. „Ein bestimmter Anteil ist unproblematisch.“
Einer Untersuchung zufolge steigt das Risiko für Patienten zu sterben um 14 Prozent, wenn die geleistete Leiharbeit sich um 1,5 Stunden verlängert. Eine andere Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass der Anteil an nicht geleisteter Arbeit stark ansteigt, wenn eine vollbesetze Schicht zur Hälfte aus Leasingkräften besteht. „Das Verhältnis ist entscheidend“, sagt Schumacher.
„Die Zeitarbeit ist nicht die Ursache des Problems, sie hat eine Brennglas-Funktion“, sagt Andrea Resigkeit vom Interessenverband Zeitarbeitsunternehmen. Die stellvertretende Hauptgeschäftsführerin spricht von einer „Abstimmung mit den Füßen“, meint damit die Flucht der Beschäftigten vor hohem Arbeitsdruck, schlechter Bezahlung und unflexiblen Arbeitszeiten. Einen „Systemfehler“ sieht auch BKG-Geschäftsführer Marc Schreiner, bleibt aber auf der Linie der Wissenschaftler Blum und Schumacher: „Für eine hochqualitative Versorgung benötigen die Einrichtungen verlässliche, gut eingearbeitete und aufeinander abgestimmte Teams“, sagt Schreiner. „Häufiger personeller Wechsel und mangelnde Kenntnis der Abläufe vor Ort können dazu führen, dass Qualitätsstandards nicht eingehalten werden können und so die Patientensicherheit beeinträchtigt wird.“




