TV-Kritik

Pflegenotstand: Karl Lauterbach gerät bei Anne Will an wütenden Berliner Pfleger

Der Gesundheitsminister brüstet sich gegenüber Ricardo Lange, er habe viel für die Pflege getan. Dabei vergisst er ein wichtiges Detail.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kündigt an, es werde im Herbst keine Lockdowns mehr geben.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kündigt an, es werde im Herbst keine Lockdowns mehr geben.dpa

Es ist schon erstaunlich, wie Lauterbach das immer wieder macht. Da sitzt er am Sonntagabend bei Anne Will in der ARD und wird von dem Berliner Pfleger Ricardo Lange intensiv danach befragt, wieso er schon wieder eine um die andere Maßnahme gegen Corona für den Herbst diskutiert, um die Überlastung der Kliniken zu verhindern. Dabei ist doch das eigentliche Problem das fehlende Pflegepersonal, und zwar nicht erst seit Corona, wie Lange dem Gesundheitsminister eindrücklich vor Augen führt:

„Wenn ich höre, man will vulnerable Gruppen schützen und das System nicht überlasten, dann sitze ich vorm TV mit geballter Faust“, hebt der Intensivpfleger an zu einem kleinen Wutausbruch: „Würden Sie sagen, das System ist überlastet, wenn Menschen wegen Personalmangel sterben?“ Lange macht deutlich: „Das ist schon seit Jahren und war auch schon vor Corona ein Problem. Jetzt gehen wir jedes Mal wieder unvorbereitet in eine Herbstwelle und alle sind erschrocken: Oh Gott, wir haben gar kein Pflegepersonal. Wir reden immer wieder über Masken und Tests, das ist alles schön. Aber Sie haben die Verantwortung für die Personalüberlastung!“

Lauterbach war selbst an der Einführung der Fallpauschalen beteiligt

Und dann sitzt Lauterbach da und lobt sich selbst. Unwidersprochen. Weil er persönlich dafür gesorgt habe, das betont er dreifach, dass die Pflege aus den Fallpauschalen in den Kliniken herausgenommen wurde. Denn die Fallpauschalen hätten zuvor dafür gesorgt, dass man Pflegekräfte in den Krankenhäusern entlassen habe, um Gewinne zu machen. „Es war mein persönlicher Vorschlag“, so Lauterbach, diesen Umstand abzuschaffen. Was er dabei vergisst: Er war einst selbst an der Einführung eben jener Fallpauschalen mit beteiligt.

Und es ist wiederum sehr erstaunlich, dass von den beiden anwesenden Journalistinnen – Anne Will von der ARD und Christina Berndt von der Süddeutschen Zeitung – nicht eine auf die Idee kommt, dem Politiker oder auch dem Publikum diesen Umstand an dieser Stelle vor Augen zu führen.

Stattdessen scheinen Will und Berndt sich in der Sendung unter der Frage „Bilanz der Corona-Politik – Ist Deutschland auf die nächste Welle besser vorbereitet?“ total einig darin zu sein, dass die Politik schon wieder viel zu spät dran sei mit den aktuellen Maßnahmen gegen Corona, die am besten schon vorgestern wieder für den kommenden Herbst oder auch für die aktuelle Sommerwelle hätten beschlossen sein müssen. Was sie vergessen zu haben scheinen: Das aktuelle Infektionsschutzgesetz gilt noch bis Ende September. Erst dann braucht es neue Maßnahmen für jetzt im Übrigen immer noch nicht bekannte Virusvarianten. Die eventuell im Herbst drohen. Zur Erinnerung: Im Moment herrscht immer noch die milde Virusvariante Omikron. Ob die nächste Virusvariante wieder gefährlicher wird, steht in den Sternen.

Überlastung der Kliniken durch Pflegenotstand, nicht durch Corona?

Die Runde täte also gut daran, den Rat des Pflegers Lange ernst zu nehmen und einmal grundsätzlich darüber zu diskutieren, wie sich das Grundproblem des Pflegenotstands endlich lösen ließe. Denn ganz offensichtlich hat es bisher noch nicht so viel genützt, dass Lauterbach die von ihm mit eingeführte Fallpauschale für die Pflege wieder mit abgeschafft haben will. Der Pflegenotstand wird seit Jahren immer schlimmer statt besser. Ricardo Lange erinnert zu Recht daran, dass die Unikliniken in NRW seit Monaten bestreikt werden: „Die streiken übrigens nicht für mehr Geld, sondern weil sie nicht mehr können. Weil sie verzweifelt sind. Weil Rettungswagen die Krankenhäuser nicht mehr anfahren können, weil die sich abgemeldet haben wegen Personalüberlastung.“

Doch die meiste Zeit der Sendung wird darauf verwendet, ein ums andere Mal die Frage zu stellen, warum die Vorsorge für den kommenden Corona-Herbst nicht schon viel weiter sei und ob es wirklich nötig gewesen sei, auf die Evaluation der Maßnahmen zu warten, die am Freitag von der extra eingesetzten Expertenkommission verkündet worden war – mit einigermaßen verheerendem Ergebnis. Denn die Kommission konnte nur einmal mehr bestätigen, dass in Deutschland die wichtigsten Daten fehlen.

Warum man denn unbedingt diese Experten hätte hören müssen, bevor man Weiteres beschließt, wollte die Moderatorin immer wieder wissen. Gegen das eifrige Duo Will/Berndt wirkte der an diesem Abend eher gemäßigte Karl Lauterbach da fast schon wie ein Maßnahmengegner. Das muss man auch erst mal schaffen.

Allein Christine Aschenberg-Dugnus von der FDP, Mitglied im Gesundheitsausschuss, gelang es stringent darauf zu verweisen, dass es schon nicht ganz so übel sei, wenn man künftig etwa in Echtzeit sagen könne, wie viele Patienten in den Kliniken aktuell mit Covid-19 oder wegen Covid-19 liegen. Und dass man nicht die immer selben Maßnahmen auch im Jahr drei der Pandemie verordnen solle, etwa: Schulschließungen.

Lauterbach verspricht: Einen Lockdown brauchen wir nicht mehr

„Wenn ich einen Appell heute noch an die Bürger richten kann“, beschließt Karl Lauterbach die Sendung: „Die vierte Impfung für jeden über 60 halte ich für absolut sinnvoll, weil damit können wir die Sterblichkeit sehr stark senken“, hätten Daten von über 80-Jährigen aus Portugal gezeigt, so der Gesundheitsminister. Das sehen allerdings nicht alle Experten so.

Immerhin, eines will er der deutschen Bevölkerung versprechen: „Ein Lockdown ist auszuschließen. Den brauchen wir nicht mehr. Dazu haben wir einen zu guten Immunitätsstatus in der Bevölkerung.“

Doch auch das sieht Christina Berndt anders und würde lieber so viele Werkzeuge wie möglich den Ländern an die Hand geben, weil wir jetzt alle noch nicht wissen könnten, was im Herbst kommt. Letzteres zumindest ist doch mal eine kluge Aussage. Wir wissen, dass wir nicht genug wissen.