Erst die Corona-Pandemie, jetzt die massive Überlastung der Notfallambulanzen und Kinderkliniken, zudem Long Covid, Post-Vac und die Probleme in der Pflege schon seit langem: Das deutsche Gesundheitssystem ist schwer krank. Wie soll es in diesem Zustand noch angemessen für die Patienten sorgen? Um eine Gesellschaft gar, die immer älter wird? Ein Ansatz könnte sein, sich wieder mehr um die Ursache von Krankheiten zu kümmern, sagt der Berliner Arzt Diego Schmidt.
Herr Dr. Schmidt, Sie haben sich bei uns auf die Geschichte von Ella gemeldet, die seit Jahren schwerste Probleme mit Hashimoto hat, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Was haben Hashimoto-Patienten in der Praxis für ein Problem?
Sie kommen mit einer Vielfalt von Problemen in meine Praxis, das ist sehr individuell. Häufig sind es anhaltende Müdigkeit, unerwünschte Gewichtszunahme, störende Verdauungsprobleme, vermehrter Haarausfall, wechselnde Schmerzen in Gelenken und Muskeln und der sogenannte Brain Fog, also Konzentrationsstörungen. Das am meisten belastende Problem für die Patientinnen ist aber, dass die behandelnden Ärzte die Symptome, wenn die Diagnose Hashimoto erst mal gestellt wurde und die Schilddrüsenwerte im Labor unter der Therapie mit Schilddrüsenhormon in Ordnung sind, nicht mehr mit der Erkrankung in Verbindung bringen. Sie werden eher dem Formenkreis der psychosomatischen Erkrankungen zugeordnet.
Sie sagen, Hashimoto ist ein Symptommuster, das ist ein grundlegend anderes Verständnis als das der meisten deutschen Mediziner. Das müssen Sie erklären.
Wenn man sich genauer mit komplexen Krankheitsbildern auseinandersetzt, ist schnell klar, dass sie auf der Grundlage individueller prädisponierender Faktoren im Zusammenspiel mit Umwelteinflüssen entstehen. Anders ausgedrückt: Jeder Mensch bringt genetische Voraussetzungen mit. Ob diese im Laufe des Lebens eher zu Gesundheit oder Krankheit führen, hängt sehr von der Lebensweise und von Lebensereignissen ab, mit denen sich der Körper auseinandersetzen muss. Treffen genetische Voraussetzungen auf ungünstige Umweltfaktoren, entstehen Störungen im Körper, die sich als Symptome manifestieren können.
Wenn bestimmte Symptommuster auftreten, die schon einmal beschrieben und benannt wurden, dann nennen wir das in der Medizin Diagnose. Im Falle der Hashimoto-Thyreoiditis sind das zum Beispiel eine Schilddrüsenunterfunktion, typische Veränderungen in der Schilddrüsensonografie und oft noch bestimmte Antikörper bei der Laboranalyse. Aus meiner Sicht entstehen diese Symptommuster aber eben auf individuellen Gegebenheiten in der Vorgeschichte. Jeder hat also seine eigene, individuelle „Hashimoto-Geschichte“, auch wenn das Symptommuster gleich erscheint.

Zwischendurch übernahm er die Leitung der Healthcare Consulting Group bei Siemens Medical Solutions. Dann machte er die Ausbildung in funktioneller Medizin am Institute for Functional Medicine in den USA. Er ist zusätzlich ausgebildet für Diabetologie und Notfallmedizin.
In Berlin-Zehlendorf hat er eine Praxis mit den Schwerpunkten metabolische Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen, Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome und Post-Covid-19-Syndrom.
Sie haben sich in den USA mit funktioneller Medizin beschäftigt, was ist das?
Die funktionelle Medizin wurde von ihren Gründern als Ansatz zur Prävention und Behandlung chronischer Krankheiten konzipiert. Krankheiten oder Symptome entstehen, wie schon beschrieben, wenn die ungünstige Kombination von genetischen Voraussetzungen und Umweltfaktoren zu Störungen in biologischen Prozessen führen. Das ist ein dynamisches Geschehen, das sich im Laufe des Lebens eines jeden von uns abspielt. Im Wesentlichen geht es in der funktionellen Medizin darum, die Ursachen von Erkrankungen anhand der individuellen Patientengeschichte herauszufinden und die Störungen in den biologischen Prozessen zu identifizieren und zu strukturieren.
Auf dieser Basis erfolgt die individuelle Therapie. Im Gegensatz zur in der Regel symptomatischen Therapie der herkömmlichen Medizin liegt der Schwerpunkt der funktionellen Medizin in der Behebung der Ursachen und der Störungen in den betroffenen biologischen Prozessen des Körpers, soweit das noch möglich ist. Dabei stehen Maßnahmen zur Optimierung des Lebensstils im Zentrum, wie Ernährung, Bewegung und Regeneration. Auch pharmakologische Therapien werden eingesetzt. Das Konzept der funktionellen Medizin wurde, soweit ich weiß, von den Gründern des Instituts for Functional Medicine (IFM) im Jahr 1991 etabliert. An diesem Institut habe ich auch meine Ausbildung gemacht und bin seitdem dort Mitglied. Der Begriff der funktionellen Medizin ist nicht geschützt, sodass ihn jeder nutzen kann. Damit geht einher, dass es auch keine einheitliche Vorgehensweise außerhalb des IFM gibt. Es macht also wenig Sinn, sich an dem Begriff „funktionelle Medizin“ festzuhalten. Es sollte eher darum gehen, den grundlegenden Ansatz einer wissenschaftsbasierten personalisierten Medizin umzusetzen, die den ganzen Menschen in Interaktion mit seiner Umwelt berücksichtigt.
Warum kann man diesen Ansatz bisher in der Medizin so schlecht umsetzen? Es werden ja hauptsächlich die Symptome behandelt.
Symptombehandlung ist in vielen Fällen vordergründig leichter und als erste Maßnahme auch sinnvoll. Jemand kommt in die Praxis und hat starke Schmerzen, möchte also erst mal Schmerzmittel haben. Die Ursache für den Schmerz ist für diesen Patienten nicht vorrangig. Wenn die Ursache aber eine Reißzwecke im Fuß ist, macht es im zweiten Schritt viel Sinn, diese zu entfernen, statt dauerhaft Ibuprofen zu geben. Ähnlich ist es mit Blutdruck- oder Magenproblemen.
Die Ursache liegt oft am ungünstigen Lebensstil. Stress und Übergewicht tragen zu diesen Symptomen bei. Nach initialer medikamentöser Therapie sollte man sich um die Verbesserung des Lebensstils kümmern. Dafür ist aber das Verständnis verloren gegangen unter dem Zeitdruck, den wir alle haben. Manchmal möchte auch der Patient den vermeintlich leichteren Weg der medikamentösen Therapie gehen. Und je mehr Möglichkeiten wir pharmakologisch haben, desto weniger Leidensdruck gibt es auch, die Ursachen zu suchen und zu therapieren. Man muss also theoretisch nicht mehr so genau hinschauen wie früher.
Was kann funktionelle Medizin leisten?
Sie kann dazu beitragen, wieder einen wissenschaftlich orientierten ganzheitlichen Ansatz zum Verständnis und zur Behandlung von komplexen chronischen Erkrankungen zu finden und zu etablieren.
Wie ist sie finanzierbar?
Individuelle Ansätze in der Diagnostik und Therapie sind auf den ersten Blick sehr zeitaufwändig und teuer. Dieser Zeitaufwand und diese Kosten sind derzeit weder bei den gesetzlichen noch bei den privaten Kassen ausreichend abgebildet. Da ist dringender Reformbedarf gegeben. Es ist aber möglich, diese individuellen Ansätze so zu strukturieren, dass sie effizienter sind.
Der Ansatz der funktionellen Medizin beruht ganz wesentlich auf der Einbindung des Patienten in das Krankheitsverständnis und die Therapie. Das erforderliche Wissen für Ärzte und Patienten kann zum Beispiel über Gruppenschulungen oder moderne Webinare vermittelt werden. Der Patient kann sich damit vieles selber erarbeiten. Die Zeit mit dem Arzt konzentriert sich dann auf wenige wesentliche Punkte. Zum anderen werden sich über erfolgreiche Lebensstiloptimierung und Prävention auch positive wirtschaftliche Effekte sowohl beim individuellen Patienten als auch im Gesundheitssystem im Ganzen und beim Arzt selbst ergeben, die in das System reinvestiert werden können. Wenn das System das alles erst gelernt hat, wird auch der Aufwand geringer. Im Augenblick investieren wir viel in die Reparatur von Krankheiten und zu wenig in die frühe langfristige Prävention. Es ist sehr viel Geld im System – es ist nur falsch verteilt.
Welche anderen Erkrankungen kann man noch mit funktioneller Medizin behandeln, welche nicht?
Grundsätzlich kann jede chronische Erkrankung nach dem Ansatz der funktionellen Medizin behandelt werden. Wie bei jeder Behandlungsmethode gibt es natürlich Grenzen. Wenn etwa Gewebe zerstört wurde, wie bei schwerer Arthrose, wird die funktionelle Medizin diese Gewebe nicht wieder komplett regenerieren. Dann ist der künstliche Gelenkersatz unter Umständen die Therapie der Wahl. Aber das ist auch nicht entscheidend, denn herkömmliche Medizin und funktionelle Medizin schließen sich überhaupt nicht aus, sondern ergänzen sich.
Inwiefern?
Wenn man ehrlich ist, findet man in der funktionellen Medizin viele Elemente wieder, die früher selbstverständlich waren. Wir kannten die Familie, wir haben den Menschen von Kopf bis Fuß untersucht, seine Lebensumstände betrachtet und versucht, ihm mit Änderungen des Lebensstils, Ernährung und Ruhe zu helfen. Da hatten wir aber noch nicht diese erkenntnisreiche Wissenschaft. Nun haben wir die Wissenschaft und vergessen manchmal darüber den Menschen. Funktionelle Medizin bedeutet, dass wir uns den Patienten wieder genauer ansehen, und zwar systematisch, und dabei die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden berücksichtigen. Der Arzt fragt sich: Was ist das für ein Mensch, der da vor mir sitzt? Er macht eine Familienanamnese und fragt: Was hat noch auf ihn eingewirkt, etwa in Form von Trauma, Infektionen, Stress und so weiter. So eine gründliche Anamnese dauert oft aber eine Stunde oder länger.
Die man heute in der Medizin nicht mehr hat.
Nein. Im zweiten Schritt schaut man sich in der funktionellen Medizin auf Basis der Symptome an, welcher biologische Prozess ist betroffen? Gibt es Probleme mit dem Herz-Kreislauf-System oder dem Magen-Darm-Trakt, welches System ist auffällig? Man „zerlegt“ also den Patienten in seine Subsysteme und schaut dann mit den verfügbaren wissenschaftlichen Möglichkeiten, beispielsweise mittels moderner Laboranalyse, tiefer in diese Systeme, um die Ursachen für die Probleme herauszufinden. Dann macht man zwei Dinge: Man nimmt das raus, was dem Patienten schadet – etwa Viren, falsche Ernährung oder zu viel Stress –, und man gibt ihm das, was ihm fehlt und ihn wieder gesund machen kann: Das kann eine Ernährungsumstellung sein, im Falle von Hashimoto die Schilddrüsentablette, aber auch weibliche Hormone oder die Mikronährstoffe wie Selen und Eisen, ohne die Schilddrüsenhormone im Körper nicht optimal wirken können. Man arbeitet also eine Ebene tiefer als üblich, das aber sehr strukturiert.
Sie versuchen als Arzt also so gut wie jede Erkrankung mit diesem Ansatz zu behandeln?
Es geht zwar mehr um die chronischen Erkrankungen. Wenn jemand einen Unfall hatte, braucht er womöglich erst mal eine OP, aber danach kommt auch wieder der funktionelle Ansatz zum Tragen. Man kann sich als Patient dann fragen: Was hat mein System belastet? Und was kann ich an den Rahmenbedingungen optimieren, um später nicht auch das zu bekommen, was meine Eltern haben? Dann warte ich nicht, bis meine Koronargefäße verstopft sind, um dann Aspirin einzunehmen, sondern ich nehme alles, was ich brauche, um diesen Prozess aufzuhalten. Dann brauche ich das Medikament vielleicht später nicht oder weniger davon. Ich muss den Trigger finden, um den Entzündungsprozess aufzuhalten, so auch bei Hashimoto.
Aber warum stellen sich so wenige Ärzte die Frage, woher diese Entzündungsprozesse kommen?
Ich denke, auch das ist ein Fehlen von kooperativen Prozessen. Früher hatten wir im Krankenhaus ein ganzes Team aus Ärzten und Pflegekräften, die alle für sich Kompetenz hatten und sich am Krankenbett zusammengefunden und den Patienten angeschaut haben. Und auch der Patient hat seinen Beitrag geleistet. Irgendwann wurde der Patient nicht mehr ausführlich befragt, inzwischen wird der Patient aus Zeitmangel kaum noch gesehen.
Wie kommen wir dahin zurück?
Das ist ein Mindset-Thema. Jeder im Medizinbetrieb hat jetzt sein Budget und versucht sich zu optimieren. Das geht im Zweifel zulasten des Ganzen. Der erste Schritt ist, zu verstehen, dass das, war wir jetzt machen, nämlich, nicht mehr systematisch miteinander zu kooperieren, nicht funktioniert. Auch der Patient muss verstehen, dass ihn das System nicht rettet, wenn er jeden Tag ungesunde Dinge tut. Wenn wir alle nur noch Stress haben und die falschen Lebensmittel konsumieren, wie sollen wir da gesund bleiben? Sehr wichtig ist deshalb auch die Ausbildung oder Schulung sowohl des medizinischen Personals, aber auch der Gesellschaft. Wir brauchen einen ganzheitlichen Fokus, der gelebt wird in einer kommunikativen Struktur.
Ich muss als Patient also in die Lage versetzt werden, mich selbst heilen zu können, Sie als Arzt können nur Hilfestellungen leisten und mich anleiten. Das ist ein grundlegend anderes Verständnis von Medizin. Lange galten Ärzte als Halbgötter in Weiß, denen man bloß nicht widersprechen sollte, manche sehen sich auch heute noch so. Was sollte sich Ihrer Meinung nach auch im Selbstverständnis der Medizin ändern?
Heilung kann nur durch körpereigene individuelle biologische Prozesse erfolgen. Das war immer so und es wird wohl auch immer so sein. Ärzte können zusammen mit dem Patienten die Rahmenbedingungen für die Heilungsprozesse optimieren. Das geschieht am besten in enger Kooperation. Natürlich gibt es Krankheitsbilder, wie beispielsweise akute schwere Verletzungen, bei denen der Arzt einen großen Anteil am Überleben und der Heilung hat. Bei chronischen Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes mellitus Typ 2 stehen, gerade zu Beginn, Lebensstilveränderungen im Vordergrund. Diese kann aber nur der Patient umsetzen. Der Arzt ist nur der Berater. Der Mensch heilt sich aus biologischer Sicht selbst. Er kann es aber nicht alleine tun, weil ihm das Wissen dazu fehlt. Dieses Wissen haben wiederum die Mediziner. Deshalb ist die Kooperation zwischen Arzt und Patient so wichtig.
Viele Patienten haben heute das Problem, dass sie von Fachärzten behandelt werden, die immer nur auf ihr jeweiliges Gebiet spezialisiert sind. Können Hausärzte diese Rolle übernehmen, den Patienten wieder als Ganzes zu sehen und auch so zu behandeln? Oder wird auch diese Rolle durch das hochkomplexe Gesundheits- und Finanzierungssystem erschwert?
Wer diese Rolle im System übernimmt, ist nicht entscheidend. Zuletzt muss der Patient selber seine Erkrankung oder besser die Vermeidung seiner Erkrankung managen. Wichtig ist aber eine Rückbesinnung darauf, den Patienten wieder als Ganzes zu sehen und zu behandeln. Hier könnte der Hausarzt als Generalist und vertrauter Berater seiner Patienten eine wichtige Rolle übernehmen.
Sie haben in Ihrem Leben schon viele Stationen durchlaufen und das Gesundheitssystem auch von außen betrachtet, nicht nur von innen. Was müsste sich ändern, damit es wieder besser funktioniert – für die Patienten und auch für die Ärzte und Pflegekräfte? Welche Anstrengungen braucht es dafür, und was läuft in die falsche Richtung?
Das ist eine komplexe Frage. Lassen Sie es mich auf die zwei wesentlichen Punkte aus meiner Sicht beschränken: Erstens brauchen wir eine ernsthafte, ehrliche Kooperation. Zweitens eine ganzheitliche wissenschaftsbasierte Prävention und Therapie von Erkrankungen, beginnend in den Familien, Kindergärten und Schulen.
Kommen wir zum Schluss noch mal zu Ella und Hashimoto: Wenn sie Patientin bei Ihnen wäre, würden Sie sich also erst mal anschauen, wie ihr Leben bisher verlaufen ist und nach welchen Ereignissen welche Krankheiten und Symptome auftraten. Und dann? Was fängt man mit den Informationen an?
Die Symptome und Ereignisse führen zu den prädisponierenden Faktoren und Krankheitsursachen, aber auch zu den aktuellen gestörten biologischen Prozessen. Beides muss nun systematisch betrachtet werden. Dann können Maßnahmen zur Ursachenbeseitigung und Optimierung der Funktionen getroffen werden. Manchmal benötigt man spezifische Therapien wie antivirale oder antibakterielle Medikamente, Hormone, spezielle Nährstoffe oder Entspannungsverfahren. Und manchmal braucht man auch viel Geduld. Wenn sich eine Krankheit über Jahrzehnte manifestiert hat, braucht es vielleicht auch ein paar Jahre, um sie wieder zu heilen.
Sie behandeln auch Long-Covid-Patienten. Von anderen Medizinern habe ich gehört, dass es sich ähnlich wie bei Post-Vac-Patienten dabei vor allem um jüngere Frauen handelt – und um sogenannte High-Performer.





